Liam schluckte mehrmals, nahm die Hand vom Mund und wischte sie an seinem T-Shirt ab.
Benommen griff ich nach dem Handy in meiner Tasche. »Ich, oh mein Gott, ich rufe einen Krankenwagen!«
Er schüttelte den Kopf und legte seine Hand auf mein Handy. Seine Hand, an der immer noch Blut klebte. Meine Augen begannen zu brennen. »Liam, verdammt, du musst ins Krankenhaus, du, du ... du hast gerade ... « Ich schluckte.
Liam nahm mir das Handy aus den zitternden Händen. Wie konnte er nur so gefasst sein? Wie konnte er hier einfach stehen, als wäre gerade nichts gewesen?
»Yara«, rauschte sein Gedanke durch meinen Kopf, aber ich wich zurück.
»Was ist mit dir?«, fragte ich, doch meine Stimme hörte sich unendlich weit weg an. »Was ..., Liam?«
Er schnaubte, drückte mir das Handy entgegen und eilte los. Für einen Wimpernschlag blieb ich regungslos stehen. Meine Knie zitterten. Ich stand völlig neben mir und bekam erst mit, wie ich mich fortbewegte, als ich bereits rannte.
»Du kannst jetzt nicht einfach verschwinden!«, rief ich und stellte mich ihm in den Weg.
Liam blieb vor mir stehen. Ich schaute in sein Gesicht und versuchte darin irgendeine Gefühlsregung zu erkennen. Angst, Sorge, Wut. Aber nichts. Ich glaubte in absolute Leere zu blicken. Nur etwas Blut, das sich in seinem Mundwinkel gesammelt hatte, zeugte von einem schlagenden Herzen.
Eine Familie mit drei Kindern drängte sich an uns vorbei. Ich hörte Möwen schreien. Das leise Gemurmel einer Kleinstadt am Vormittag drang erst jetzt an mich heran, als hätte es vorher einfach nicht existiert. Der Geruch nach frisch gebackenen Crêpes lag in der Luft. Er vermischte sich mit Liams Duft ...
Erneut begann ich in meiner Tasche zu wühlen und fand ganz am Boden noch eine Packung mit einem Taschentuch, das ich ihm reichte. »Was geht in deinem Kopf vor?«
Liam nahm es entgegen, wandte sich ab und wischte sich damit über den Mund. Dann sah er sich um und steuerte auf einen Mülleimer zu.
Ich kam ihm nach. »Liam?« Er wankte ein bisschen, als er sich zu mir umdrehte. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich über die Stirn und hielt sich dann den Bauch.
»Hast du Schmerzen?«, fragte ich und legte die Stirn in Falten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, was ich fragen sollte, ohne ihn zu vertreiben. Liam verhielt sich wie eine empfindliche Blume, die sich, bei nur einer falschen Berührung, schloss.
Er lächelte schmal und schüttelte den Kopf. Dann nickte er die Straße nach unten.
»Ich weiß nicht, was du mir sagen willst.« Ich seufzte. In meinem Kopf schwirrte es voller Gedankenfetzen, die ich einfach nicht zu Ende denken konnte. Also versuchte ich sie, so gut es ging, zu verdrängen.
Liams Lächeln wurde breiter und am Liebsten hätte ich ihn geohrfeigt. Wie konnte er in dieser Situation nur lächeln? Er schien das alles überhaupt nicht wirklich ernst zu nehmen.
Wütend stemmte ich die Hände in die Hüfte. »Wie wäre es, wenn du Worte benutzt und mir sagst, was mit dir nicht stimmt, anstatt dumm zu grinsen?«
Er griff nach meiner Hand und zog mich mit sich, aber ich stemmte mich dagegen. »Was soll das? Wohin willst du?«
Sein Magen gab ein lautes Grummeln von sich und er neigte den Kopf leicht zur Seite.
»Willst du ... willst du mich verarschen?«
Liam seufzte. Das Lächeln verschwand und er blickte betreten zu Boden. Erneut knurrte sein Magen.
In meiner Brust bildete sich ein Knäul aus unterdrückten Gedanken, Wut und Angst, auf, aber vor allem um ihn, der anschwoll und binnen Sekunden einfach explodierte. Ich fing an zu lachen.
Liam hob die Brauen. Ich spürte neugierige Blicke auf mir, aber diese glitten einfach an mir ab, als wäre meine Oberfläche aus poliertem Glas.
»Du hustest Blut«, brachte ich gepresst hervor. »Und an alles, was du denken kannst, ist Essen?«
Liam zog die Schultern hoch. Er biss sich auf die Unterlippe und dann verschwand die Leere auf seinem Gesicht. Aber der Ausdruck, der in seine Augen trat, gab mir das Gefühl, zu stürzen. Ich stürzte einen Hang hinab und landete in meinem inneren Ozean.
Es war nicht mein Fall. Sondern seiner. Er beugte sich vor und legte seine Hand an meine Schläfe. »Es ... hilft«, kamen seine Gedanken abgehackt bei mir an, als würde ich einem Radio mit Sendestörungen lauschen.
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Herz aus Salz und Glut
FantasyEin Junge, der schweigt. Ein Mädchen, das die Wellen bändigt. Und ein Geheimnis, das nur allein das Meer kennt. Yara zieht mit ihrer Mutter an die Nordseeküste, um ein neues Leben zu beginnen. In ihre Stufe geht Liam, der nicht spricht und niemanden...