Liam musste Kraft in seinen Beinen haben, denn wir fuhren eine ganze Weile, ohne ein einziges Mal langsamer zu werden. Das Bild am Himmel hatte sich in ein Mosaik aus Wolkenfetzen und schwarzer Unendlichkeit verwandelt, nur unterbrochen von weißen Lichtern. Der Mond stand über dem Meer und verwandelte die Oberfläche in ein Spiegelbild silbernen Scheins. Und dann sah ich ihn. Halb verborgen hinter hohen, kantigen Felsen, die einige Meter ins Meer hineinragten, erstreckte ich ein alter Leuchtturm in den Himmel. Es war ein atemberaubender Anblick: die Wellen türmten sich gegen die Felsen auf, die Gischt wirbelte um das graublaue Gestein wie Schnee. Und der Mond ... Sein Licht tanzte schräg auf den Leuchtturm hinab, legte sich um die halbrunden Fenster und ließ das innere schwarz wie Pech wirken.
Liam hielt einige Meter vor den kantigen Felsen, die wie abgebrochene Messerspitzen aus dem Boden ragten. Vom Strand her gelangte man auf die kleine Halbinsel. Hohe Dünen türmten sich um den Leuchtturm herum auf, die im Mondlicht weiß wie Puderzucker wirkten.
Liam lief voraus, kletterte auf eine der Dünen und breitete die Arme aus. Es sah aus, als wollte er mir sagen: »Hier sind wir, ist das nicht wunderschön?«
Und ja, es war wunderschön. Ich blieb stehen und betrachtete den Jungen, der dort umgeben von Sand, Felsen und Meer stand, und mir mit seinen Armen eine ganze Unendlichkeit präsentierte. Ein breites Lächeln stellte sich auf meinen Lippen ein und ich rannte, stolperte halb, zu ihm. »Ich liebe alte Leuchttürme«, rief ich gegen das Zischen und Gurgeln der Wellen an, die hinter uns gegen die Felsen donnerten. Liam verbeugte sich, zeichnete mit der Hand eine verschnörkelte Linie in die Luft und deutete dann auf den Leuchtturm. Ich musste lachen. »Nach Euch.« Liam ließ sich das nicht zwei Mal sagen und marschierte auf den alten Leuchtturm zu. Ich folgte ihm dicht auf den Fersen. Zu meiner großen Überraschung war die Tür nicht abgesperrt. Die alten Scharniere knarzten, als Liam gegen das morsche Holz drückte. Grüne Farbe blättere daran ab. Der Leuchtturm musste zu seiner Zeit einmal sehr schön gewesen sein. Alleine das seltsam grünschimmernde Gestein verlieh dem Gebäude eine magische Ausstrahlung. Liam hatte es mittlerweile geschafft, die widerspenstige Türe aufzubekommen, und trat in das Innere. Mit einem beklommenen Gefühl folgte ich ihm. Die einzige Lichtquelle war das Mondlicht, das durch die Türspalte sickerte. Ansonsten war es beinahe absolut dunkel. Als Liam die Tür hinter uns zudrückte, zuckte ich zusammen.
»Liam«, flüsterte ich. Ich spürte seine Wärme und roch den vertrauten Duft nach Zedernholz, der sich mit einem leicht modrigen Geruch nach abgestandenen Wasser vermischte. Blind tastete ich mit den Händen in der Luft herum, doch bekam ihn nicht zu fassen. Ich hörte Schritte, ein leises Scharren und dann entflammte ein Licht neben mir an der Wand.
Irritiert blinzelte ich in den Fackelschein. Liam stand über mir, auf der vierten Stufe, einer Treppe, die spiralförmig nach oben führte.
»Wie ... wie alt ist der Leuchtturm?«, fragte ich ehrfürchtig. Der rotorangene Schein tanzte über die Steinwände und hinterließ ein flackerndes Bild aus Schatten und Licht.
Liam zog die Schultern hoch. Er deutete mit der Hand an der Wand entlang und ich entdeckte weitere, eiserne Haltungen in denen Fackeln steckten. Ruß bedeckte dort die Wände. »Hast du die Fackeln hierhergebracht?«, fragte ich.
Liam nickte. Wir liefen die Steintreppen nach oben, während er eine Fackel nach der anderen mit seinen bloßen Händen entzündete. Es war ein faszinierender Anblick, der mir absolut keine Angst einjagte. Schließlich konnte ich Wasser bändigen, und wie es schien, auch ziemlich schnell rennen. Ich fühlte mich in eines der Fantasybücher hineinversetz, indem die Magier alte, und geheimnisvolle Orte bereisten, um ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Bei diesem Gedanken schlug mein Herz höher und ich beschleunigte meinen Schritt.
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Herz aus Salz und Glut
FantasyEin Junge, der schweigt. Ein Mädchen, das die Wellen bändigt. Und ein Geheimnis, das nur allein das Meer kennt. Yara zieht mit ihrer Mutter an die Nordseeküste, um ein neues Leben zu beginnen. In ihre Stufe geht Liam, der nicht spricht und niemanden...