-10.1- Die Flut

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Liam lehnte neben mir. Ich strich durch sein schwarzes Haar und dachte über seine Worte nach. Oder zumindest versuchte ich es. Einem Strudel gleich schwirrten mir die Gedanken durch den Kopf und ich schaffte es kaum, mich auf einen zu fokussieren. 

Wenn mich meine Kraft heilte, warum würde mein Vater sie dann unterdrücken wollen? Das ergab keinen Sinn. Ich war mir sicher, dass er mich hatte heilen wollen. Das Fieber war schließlich real. 

Ein Fieber, das mich nicht tötete, sondern stärker machte. Doch Liam ... Liam schwächte es. Es schien, als verzehrte es ihn von innen heraus.

Die rote Frau hat das Meer in Blut getränkt. Es vergisst nicht. Niemals.

Ich stöhnte auf, als sich dieser Gedanke ungebeten in mein Bewusstsein drängte. Was hatte die rote Frau mit all dem zu tun? Was bedeuteten die Träume? 

Ich wusste es nicht. Ich wusste so wenig und das machte mich wahnsinnig. 

Neben mir schlief dieser wunderbare Junge, der mir einen Teil seiner Welt offenbart hatte. Dieser Junge, der Blut hustete und glaubte, sterben zu müssen. 

Und ich – ich war da irgendwie hineingeraten. Und das schon vor vielen Jahren. Zu einem Zeitpunkt, als ich noch geglaubt hatte, die Welt wäre rosarot und ich könnte mich ewig im Lachen meines Vaters sonnen. Zu einer Zeit, in der meine liebsten Freunde die Bücher waren, in dessen Welten ich mich zurückzog, wenn das Fieber mich davon abhielt, draußen mit den anderen Kindern zu spielen. Zu einer Zeit, in der ich in einer Blase aus Hoffnungen und Träumen saß, die mir eine Zukunft vorlogen, in der Schmerz etwas Surreales war. 

Der Wendepunkt war ein Stein gewesen. Ein Stein, der etwas mit mir gemacht hatte. Und ein Mann, der sein Lachen vor fast acht Jahren verlor und daran zu Grunde ging.

Der Grund, warum ich seit Tagen kein Buch mehr in die Hand nahm, war, dass ich nicht länger vor meiner eigenen Geschichte davonlaufen konnte.

Nach einer Weile fing Liam wieder an zu glühen und ich legte ihn vorsichtig auf das Sofa. Ich fand einen Kühlbeutel in seinem Gefrierfach – zwischen all dem Eis - und legte es ihm auf die Stirn. Seine Augen bewegten sich schnell unter den geschlossenen Lidern. Vermutlich träumte er gerade. Ich fuhr mit den Fingerkuppen über seine hohen Wangenknochen und den Kiefer entlang. Er stöhnte leise und öffnete die Augen.

»Hi«, murmelte ich.

Er lächelte, nahm meinen Kopf in beide Hände, zog mich zu sich herab und küsste mich hauchzart auf die Wange.

Irritiert wich ich zurück und erinnerte mich an seinen Kuss von heute Vormittag. Doch dieses Mal regte sich kaum etwas in mir. Nur eine Wand aus Wind drängte eine innere Flut, wogend vor Angst und Sorge, beständig zurück. 

Liam setzte sich auf und drückte sich den Kühlbeutel gegen die Schläfe. Die Nachmittagssonne strahlte durch das Fenster und machte den Staub in der Luft sichtbar.

»Hast du irgendetwas zum Fieber senken da?«, fragte ich ihn. Liam schüttelte den Kopf. Er stand auf und torkelte aus dem Raum. Kurz darauf hörte ich das Brausen einer Dusche. Ich folgte ihm und blieb im Türrahmen zu einem kleinen Badezimmer stehen.

Auch hier war alles sauber. Die minimalistische Einrichtung wurde nur von einem Haufen CDs unterbrochen, die auf der Waschmaschine, zusammen mit einem Radio, lagen. 

Liam saß in der Badewanne und ließ sich - vermutlich - eiskaltes Wasser über den Körper laufen. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.

Ich setzte mich neben die Wanne und zog die Beine an.

»Wie fühlst du dich?«, fragte ich. 

Liam antwortete nicht. Deutete stattdessen in Richtung des alten CD-Spielers.

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt