-17.1- Die rote Frau

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Ich lief an den Klippenrand zurück und spähte über die Bambussträucher zum Meer. Der Drachenstein vibrierte in meiner Hand. Es dauerte nicht lange, da zupfte der Wind an meiner Kleidung. Ich wusste nicht genau, wie der Zauber, der mich ganz leicht werden ließ, funktionierte. Er kam einfach und ging wieder, ohne, dass ich es wirklich beeinflussen konnte. Dennoch breitete ich die Arme aus, atmete tief ein und fühlte, wie die Magie des Sturms mich durchflutete. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und ließ mich fallen. 

Langsam schwebte ich zu Boden und landete sanft zwischen dem Bambus. Ich bahnte mir einen Weg an den Strand und hatte endlich wieder freien Blick auf den halbrunden Mond. Einen Moment blieb ich am Ufer stehen und lauschte in mich hinein. Ich wusste nicht wirklich, wie ich zurückkommen sollte, aber am einfachsten erschien es mir, ins Wasser zu waten und unter zu tauchen. 

Ich wollte gerade loslaufen, da bemerkte ich etwas auf der Wasseroberfläche treiben. Die Arme anhebend, formte ich eine Welle, die das Objekt näher an mich herantrug. 

»Oh mein Gott«, stieß ich hervor, als ich erkannte, dass das ›Objekt‹ kein Objekt war, sondern ein Mensch! Ich ließ den Stein in meiner Hosentasche sinken und stürmte ins Wasser. 

Das rote Haar schimmerte wie eine dunkle Flamme im Spiegelbild des Mondes. Der Anblick wirkte nicht erschreckend, nicht furchtbar wie es hätte sein sollen. Nein. Der bleiche Körper, das dichte Haar und die Augenlider, die sanft auf seinen markanten Wangen ruhten, wirkten wunderschön und seltsam friedlich auf mich. 

»Flynn ... «, flüsterte ich und berührte ihn an der Schulter. »Flynn?« Bewegungslos trieb der Hüne gegen meinen Bauch. Ich hielt die Luft an. Er sah nicht tot aus, nur, als würde er schlafen. 

»Wach auf«, sagte ich, immer noch seltsam ruhig. »Flynn?« Ich packte ihn unter den Armen und zog ihn rückwärts aus dem Wasser. »Flynn?« Ich schlug ihm gegen die Wangen. Jetzt, da er nicht mehr im Meer trieb, viel der seltsame Glanz von ihm ab und ich erkannte die schreckliche Wahrheit. 

»Oh nein, bitte nicht!« Ich tastete nach seinem Puls, konnte aber nichts fühlen. Ich legte mein Ohr auf seine Brust, aber er atmete nicht. Verzweifelt fing ich mit den ersten Reanimationsmaßnahmen an, meine schmerzende Hand dabei ignorierend. Ich hatte das Gefühl, seine Rippen zu zertrümmern. Immer wieder versuchte ich seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen, aber er blieb regungslos. 

»Komm schon!«, rief ich. Aufkommende Tränen versperrten mir die Sicht. Das konnte nicht wahr sein. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Wieso war Flynn hier? Wieso lag er hier, vor mir, und atmete nicht? »Verdammt, Flynn!«, schrie ich nun. »Ich lasse nicht zu, dass du hier stirbst! Das kannst du mir nicht antun. Mir nicht und Liam auch nicht, bitte ... « Der Schmerz in meinen verletzten Fingern wurde unerträglich. Flynns Lippen waren blau. Blau und tot. Die Kraft in meinen Armen ließ nach. Das Gesicht des Toten verschwamm hinter einem Vorhang aus Tränen. Und dann sah ich es. 

Ganz klar und deutlich. 

Das Meer vergisst nicht. Das Meer erinnert sich. Ich sah, wie Flynn gestorben war und hörte augenblicklich mit der Herzdruckmassage auf. Er war nicht ertrunken. Jemand hatte sein Genick gebrochen. Jemand, den ich sehr gut kannte. Ich konnte sie fühlen. Hier ganz in der Nähe. Eisige Klauen vermischten sich mit einem vertraut warmen Gefühl. 

»Das kann nicht sein«, schluchzte ich, doch ich konnte die Bilder nicht verleugnen, die an meinen inneren Augen vorbeihuschten. 

Ivie war es gewesen, die ihm die Magie dieses Ortes gezeigt hatte. Ivie war es gewesen, die ihn für sein Wissen ermordet hatte. Ivie war es gewesen, die Lydia als Sprachrohr missbraucht hatte. Und nun sah ich endlich auch, wer die rote Frau war. Ihr Gesicht sprang mir entgegen. Fremd und gleichzeitig doch so vertraut. 

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt