-7.1- Die Sterne des Ozeans

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Ich stand an einer Klippe und sah diesen großen Schatten hinter den Wolken.

Eine Windböe zerrte an mir und ich schlang die Arme um meinen Oberkörper.

Das Wesen wimmerte leise. Es hörte sich an wie das Heulen einer Eule und eines Wolfes in einem Duett. Schmerzhaft. Das Wesen hatte Schmerzen, das konnte ich spüren.

Ich streckte meine Hand nach ihm aus, doch es blieb ein Schatten am Himmel.

»Warte!«, rief ich. Ein oranges Blinken lag hinter den Wolken. Es sah aus, als würde der Himmel brennen. Das Wesen heulte erneut, dann durchbrach es die Wolkendecke und stürzte in Richtung grauem Meer. Es brannte, drehte sich in hellen Flammen. Blaue Schuppen schimmerten darunter hervor und dann tauchte es unter. Glomm im Meer fort.

Ich spürte einen heißen Stich im Herzen, nahm Anlauf und sprang.

Keuchend richtete mich auf. Mein Bettzeug war nassgeschwitzt und mein Herz klopfte so heftig gegen meine Brust, dass es schmerzte. Ich fragte mich, ob ich nun jede Nacht solche seltsamen Träume haben würde.

In aller Eile zog ich mich an und verschwand aus dem Haus.

Es regnete. Die Tropfen spülten den Schweiß von meiner glühenden Haut. Ich lief los. Eilte zum Strand. Ein Flüstern rief meinen Namen. Etwas schwebte über den Wellen und zog an mir.

Ich fühlte mich umgeben von einer pulsierenden Aura. Doch sie machte mir keine Angst. Sie fühlte sich nach jemanden an, in dessen Herzen meine Heimat schlummerte. Ein Sturm wütete um mich herum, aber er kam mir auf einmal ganz leise vor. Ein Weg breitete sich vor mir aus. Ein Weg aus weißem Sand. Ich spürte ein warmes Band, das sich um meine Haut schmiegte und mich sanft vorwärtstriebt. Erst verstand ich dieses Gefühl nicht, doch als ich ihn dort stehen sah, inmitten des Sturms, als wäre es seine Heimat, als wäre er dort geboren, da wusste ich es.

Sehnsucht.

Ein Tänzer bewegte sich vor mir im Licht des Sturms. Rasche Bewegungen, denen die Wellen folgten, und der Sand umgab ihn wie eine Kugel aus Sternenstaub. Flammen tanzten um ihn herum, ergaben die Blüten seiner Schönheit. 

Atemlos stand ich dort, verzaubert und regungslos, während er seinen Tanz fortführte. Kleine schimmernde Lichter stiegen aus den Wellen empor wie Funken eines blauen Feuers. Sie legten sich über seine Arme und Beine. 

»Liam«, entglitten mir die Worte, als hätte der Wind sie von meinen Lippen gerissen. Das Flüstern schwoll an, doch es sprach nicht zu mir, sondern zu dem Jungen, der sich drehte und wandte und mit den Wellen verschmolz, als gehörte er nicht in diese Welt.

Ich öffnete den Mund, wollte dem Flüstern meine Sprache überziehen, wollte mich ihm ganz nahe fühlen. Ihm, der mein Geheimnis teilte, ihm, der Wasser bewegte und den Sturm und den Sand, und ihm, den die Flammen verehrten. 

Ich wusste, ich war nicht mehr Yara aus Berlin, Tochter und Freundin, Erbgut und Ergebnis eines Sozialisationsprozesses. Ich war Yara, Seele und Geist, Mensch und Meer. Die Eindrücke verschwammen. Ich selbst verschwamm und ich bewegte die Lippen und eine Stimme sprach, die älter war als ich selbst. 

»Ich erkenne dich.« 

Dann zerbrach eine andere Wirklichkeit in der Wirklichkeit und die Realität, die ich kannte, kehrte zurück. Bösartig und brutal. Liam hielt inne. Er stand weit entfernt und doch wusste ich, dass er mich ansah. 

Und er rannte. Rannte, als wäre ich die Spinne, die ihn verzehren wollte. 

Ich fühlte mich, als würde ich zum zweiten Mal aus einem Traum erwachen, doch dieses Mal schrie ich nach seinem Namen. Regen peitschte in wilden Böen gegen mich. Meine Rufe gingen im Getöse unter. Ich wusste nicht, wo ich war. In der Ferne türmten sich graue Felsen in die Höhe. Mein Herz raste. Ich konnte nicht glauben, was ich da gerade gesehen hatte. Ein Donner grollte durch die Nacht und ich zucke im gleißenden Licht eines Blitzes zusammen. Ich konnte Liam nur noch Schemenhaft erkennen, dennoch setzte ich ihm nach. 

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt