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Ich lief nicht direkt zur Schule, sondern zuerst Richtung Strand. Das Gespräch mit meiner Mum ging mir nicht aus dem Kopf. Ich wusste nicht recht, wie ich mit ihr umgehen, was ich sagen oder tun sollte, damit sie sich keine Sorgen mehr machte. Ich griff an meine Brust und zuckte zusammen, als ich den Steinanhänger dort nicht fühlte. 

»Scheiße«, kam es mir über die Lippen. »Scheiße, scheiße, scheiße!« Ich fing an zu rennen, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass der Mondstein nun am Grund der Nordsee lag und mit ihm ein großer Teil meines Vaters. 

Ich hastete über die Dünen. Tränen verschleierten mir die Sicht. Das Meeresrauschen dröhnte heute laut in meinen Ohren und ich stand kurz davor zu schreien, einfach nur zu schreien. Aber dann sah ich ihn am Ufer sitzen. Sein Anblick riss mich so heftig aus meiner Trauer, dass ich stolperte und bauchlinks im Sand landete. »Liam«, murmelte ich und hievte mich auf die Knie. 

Er wandte sich zu mir um. Das weiße Licht, einer Sonne, die sich hinter dichten Wolken verbarg, stand ihm seitlich im Rücken und erneut sah es so aus, als würde ihn ein Scheinen umgeben. Doch anders als der raue Wind und das aufgewühlte Meer, wirkte sein Gesicht völlig ausdruckslos. Nicht eine einzige Emotion zeichnete sich darauf ab. Wie in hellen Sandstein gemeißelt, schoss es mir durch den Kopf, als ich seine leicht gebräunte, doch heute auffällig blasse Haut musterte. Dunkelgraue Ringe lagen unter seinen Augen. Sein Blick ruhte auf mir wie der, einer zum Leben erwachten Statue, dann drehte er sich wieder dem Meer zu. Ich stand ganz auf, klopfte mir den Sand vom Kleid und hockte mich neben ihn.

Liam rückte ein wenig zur Seite. Meine Brust fühlte sich leer und kalt an und seine Geste machte es nicht besser. Ich seufzte unterdrückt und suchte nach Worten. »Wieso bist du nicht in der Schule?«, fragte ich das Erstbeste, das mir in den Sinn kam.

Doch Liam zuckte nur mit den Schultern. Er könnte mich das selbe frage, dachte ich, zog meine Beine an den Oberkörper und schlang die Arme um die Knie. »Ich denke, es ist in Ordnung, die erste Stunde zu verpassen«, murmelte ich. »Bei mir ist es nur Pädagogik. Bei dir müsst es ... Französisch sein, oder ... Informatik?« Ich schielte zu ihm herüber, aber Liam ignorierte mich. 

»Also bin ich für dich unsichtbar? Genauso unsichtbar wie alle anderen auch.«

Liam hob den Kopf ein kleinwenig an. Er drückte seine Hand neben sich in den feuchten Sand. Ich musterte sie. Eine verirrte Windböe fegte über uns hinweg und wirbelte den Sand auf. Etwas schwang in mir und ich begann in den feingliedrigen Händen ganze Sätze zu lesen: Du bist nicht unsichtbar. Ich sehe dich. Aber natürlich war das nur Einbildung. Ich spürte, wie er mich ansah, traute mich aber nicht aufzusehen. Was würde ich in seinen Augen finden? Aufmerksamkeit? Oder dieselbe Gleichgültigkeit, mit der er mir in der Schule begegnete? Erst als er sich erhob, schaffte ich es, meinen Blick zu heben. Er stand kerzengerade am Ufer und schaute zum Horizont. Ganz langsam drehte er seinen Kopf in meine Richtung. Ein Gefühl, als würde ich schwerelos über dem Wasser schweben erfasste mich. Mein Herz raste. Etwas strich über meine Wange. Nur eine kurze, hauchfeine Berührung wie von einer Feder. Ich erschauderte. Als sich unsere Blicke schließlich trafen, überkam mich das trügerische Gefühl, er hätte mich berührt. Doch das war natürlich unmöglich. Er stand viel zu weit weg.

Und da war es: ein kurzes Zucken seiner Mundwinkel, eine winzige Flamme, die in seinen Augen aufflackerte. Er lächelte mich an. Und diese Geste – so klein sie auch sein mochte - erhellte meine Gedanken wie ein Stern in der Nacht. Dann drehte er sich um und ging. Sein Abdruck im Sand blieb zurück und ich konnte nicht anders, als meine Hand in die Kuhle zu legen, bevor sie sich mit Meerwasser füllen konnte. 

Liam kam mir vor wie ein anderes Wesen, das auf seine ganz spezielle Art kommunizierte. Dieser Handabdruck war Sprache, ein Wort, ein Satz, ein Hallo, ein Tschüss. Ich grub meine Hand fester in den Abdruck. Nein, er war kein fremdartiges Wesen, denn schließlich berührten meine Finger indirekt die seinen.

Es war seltsam, denn obwohl er nicht mehr neben mir saß, fühlte es sich an, als wäre er noch immer hier. Ein unsichtbares Wesen, ein Echo seiner Selbst. Ich schaute über die Wellen hinweg und ein Schauer wanderte meine Wirbelsäule entlang. In der Ferne sah ich die Umrisse jener Insel, die mir beinahe das Leben gekostet hätte. In Zukunft würde ich mich von ihr fernhalten.

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt