-3.1- Brugada-Syndrom

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»Yara?« Jemand rüttelte an meiner Schulter und rief – der schrillen Tonlage nach zu urteilen – zum wiederholten Male meinen Namen. Stöhnend drehte ich mich zur Seite. Meine Lider fühlten sich an, als hätte sie jemand zugeklebt. 

»Gottverdammt, Yara? Was ist los mit dir? Du hast verschlafen. Außerdem bin ich vorher über deine nassen Klamotten gestolpert, willst du mir das vielleicht erklären?« Der Redeschwall überforderten mein noch träges Gehirn und ich zwang mich meine Augen aufzureißen. Ein verschwommenes Gesicht tauchte vor mir auf und ich musste mehrmals blinzeln, bis ich erkannte, wer sich da über mich beugte. Meine Mum. Wer auch sonst. 

»Endlich wieder bei Bewusstsein, ja?« Sie hob beide Brauen, den Mund hatte sie bedrohlich zusammengekniffen. Sie sah nicht sehr glücklich aus. 

»Ich hatte einen seltsamen Traum«, murmelte ich. Vorsichtig setzte ich mich auf und wurde keine Sekunde später von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. 

»Das hast du nun davon, wenn du bei offenem Fenster, in Unterwäsche schläfst. Wie es aussieht auch noch nass.«

»Wie bitte?«, keuchte ich, als sich meine Lunge entkrampft hatte. Entgeistert starre ich an mir herunter und tatsächlich trug ich nur meine Unterwäsche. Außerdem zeichneten sich auf dem Laken einige Wasserflecken ab. Verlegen zog ich die Bettdecke über meine Brust. 

»Könntest du mir das bitte erklären?« Meine Mum deutete anklagend auf einen Haufen Wäsche zu Füßen des Bettes. 

»Ich ähm ... «

»Warst du etwa betrunken? Hast du dich nachts rausgeschlichen, um baden zu gehen, in deinen Klamotten?«

»Was? Nein, ich ... « Die Erinnerung holte mich so plötzlich wieder ein, dass ich beinahe aufgeschrien hätte. Ein scharfes Ziehen in meinem Hinterkopf ließ mich aufstöhnen. Das konnte doch alles nicht wirklich passiert sein, oder? Erneut spürte ich die erdrückenden Massen des Wassers auf mir lasten. Hustend stürzte ich ans Fenster und versuchte so viel Sauerstoff wie möglich in meine Lunge zu pumpen. 

»Du hörst dich schrecklich an.« Meine Mum warf etwas gegen meinen Rücken. »Zieh dir etwas an. Ich mache solange Tee.« Sie seufzte gedehnt. »Wegen dir komme ich noch zu spät ins Büro!«

Dann geh doch einfach, hätte ich am liebsten gerufen, aber ich musste mich zu sehr darauf konzentrieren, einzuatmen. Als ich das leise Klicken des Türschlosses hörte, ließ ich mich erschöpft zurück in die Matratze fallen. Bilder flackerten vor meinen inneren Augen auf. Bilder von Blau und Grau. Bilder von riesigen, schwarzen Wellen, von einer Insel und zerklüfteten Felsen. Jemand ... irgendjemand hatte mich aus dem Wasser gezogen und zurück in mein Zimmer gebracht. Aber wie konnte das sein? Das alles musste ein Traum gewesen sein, denn andernfalls müsste ich jetzt tot im Meer umhertreiben. Niemand hätte dort draußen sein können, niemand hätte mich aus diesem Sturm fischen können. Oder war es am Ende ein Inselbewohner gewesen? Doch wieso war ich dann in meinem Zimmer aufgewacht? Ich erinnerte mich dunkel daran, wie mich jemand getragen hatte. Ein Geruch stieg mir in die Nase. Zedernholz. Ja, genau danach hatte mein Retter geduftet. Ob ich ihn jemals wiedersehen würde, ob ich ihn vielleicht sogar kannte? Vielleicht war es jemand, der selbst mit einem Boot unterwegs gewesen war. Mitten in der Nacht. Ganz nah bei der Insel, die weder meine Mutter, noch sonst jemand sehen konnte, den ich danach gefragt hatte. 

»Das hast du dir nur eingebildet«, tanzten mir die Worte meiner Mum durch den Kopf, die sie an mich gerichtet hatte, nachdem ich die Insel, einige Tage nach unserem Einzug, zum ersten Mal bemerkt hatte. 

Nach ihr musste meine ganze Welt mittlerweile aus Einbildungen bestehen. Aber wer auch immer mich vor dem sicheren Ertrinken gerettet hat, überlegte ich, konnte vielleicht dasselbe sehen wie ich. 

»Yara, kommst du bitte!«, rief meine Mum von unten. Ich rollte mich aus dem Bett und landete etwas ungeschickt auf meinen Knien. Ich schlüpfte nur schnell in frische Unterwäsche und in eines der wenigen Sommerkleider, die ich besaß.

Meine Mum wartete am Küchentresen und musterte mich von oben bis unten, als ich die Treppe herunterschlürfte. Ich fühlte mich noch immer nebelig und nicht ganz wach. 

»Willst du dir nicht etwas Bequemeres anziehen?«, fragte sie, dann deutete sie mit der Hand auf den Barhocker neben sich. Ich schüttelte den Kopf und ließ mich darauf sinken. 

Meine Mum schob mir eine Tasse mit dampfenden Tee zu - dem Geruch, der mir entgegenströmte nach zu urteilen, Kamillentee - und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Und jetzt erklärst du mir mal bitte, was du gestern Nacht noch alles getrieben hast.« Ihre Stimme hörte sich an, als müsste sie die Worte durch ein dünnes Rohr pressen.

Ich schluckte. Was sollte ich ihr denn bitte erzählen? »Ich ... ähm, ich habe einen Nachtsparziergang gemacht.«

»Ach, und bist dann auch gleich baden gegangen?«

»Ja ... « In meiner Brust drückte und zwickte es. Ich musste erneut husten. Scheinbar befand sich immer noch Salzwasser in meinen Lungen. 

»Du sahst gestern schon fertig aus. Was willst du mir mit diesem selbstzerstörerischen Verhalten eigentlich mitteilen?«

»Überhaupt nichts«, brachte ich heiser hervor. »Ich brauchte nur etwas frische Luft. Mehr nicht.« Ich warf einen Blick auf die Küchenuhr und stand auf. »Ich komme zu spät.«

»Du willst in die Schule?« Sie legte die Stirn in Falten und neigte den Kopf zur Seite. »Bei dem Husten?«

Ich zog die Schultern hoch. Das ist kein Husten, Mum, nur noch etwas Salzwasser. Ist völlig normal, wenn man fast ertrunken wäre. »Mir geht es gut.«

Ich verschwand im Bad, bevor meine Mum mir erklären konnte, dass es mir nicht gut ging, und versuchte notdürftig das Salz von meiner Haut und den verknoteten Haaren zu waschen. Immer wieder warf ich einen Blick in den Spiegel und starrte meine leicht geröteten Wangen an. Ich lebte, ich atmete. Meine Brust hob und senkte sich. Zitternd setzte sich mich auf den Badewannenrand und strich den Stoff des blauen Kleides glatt. Ich musste mich beruhigen, ehe ich meiner Mum wieder unter die Augen trat.

Als ich in die Küche zurückkehrte, saß sie immer noch dort. Sie stützte ihren Kopf auf beiden Händen ab und stierte in ihren Tee. Mit schlechtem Gewissen holte ich mein Schulzeug aus dem Zimmer. Sie machte sich Sorgen um mich. Nicht nur ich hatte Dad verloren, sondern auch sie. Meine Mum wollte mich nicht auch noch verlieren. Das verstand ich, aber wie hieß es so schön: Was man liebt, muss man freilassen. Kehrt es zu dir zurück, ist es dein. Bleibt es fort, hat es nie dir gehört. 

Ich legte ihr beide Hände auf die Schulter. »Mum?«, murmelte ich. Sie richtete sich auf und drehte sich zu mir um. Ihre dunklen Augen glänzten leicht. 

»Ich denke, es ist besser, wenn du heute zuhause bleibst, Süße. Ich kann auch einen Tag freinehmen. Ich bin auch nicht sauer. Wir könnten heiße Schokolade trinken und uns Liebesschnulzen anschauen, was hältst du davon?« Sie lächelte und rieb mir über die Arme. 

Ich schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, wir schreiben bald Bio. Ich will nichts verpassen. Aber heute Abend.« 

Meine Mum seufzte. »Na gut. Aber wenn etwas ist, dann kommst du nach Hause, ja? Du kannst mich immer anrufen!«

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt