-15.1- Nahender Sturm

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Am nächsten Morgen erwachte ich alleine. Das ganze Sofa duftete nach ihm. Aber es roch nicht nur nach Zedernholz, sondern auch nach Angst und Schweiß. Ich weiß nicht mehr, wie oft sich Liam in dieser Nacht übergeben hatte, nur, dass ich jedes Mal davon aufgewacht war. 

Auf dem Fernsehtisch standen noch der Kamillentee und die blutigen Taschentücher. Für einige Momente blieb ich einfach so liegen. Ich fröstelte etwas. Seine Wärme fehlte. Es fühlte sich so an, als würde seine nicht Anwesenheit einen Winter in mir auslösen.

Mein Handy vibrierte. Es war Flynn, der mich fragte, wo ich abblieb. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich schon viel zu spät dran war. Eilig stand ich auf, schmierte mir ein Brot für Unterwegs, zog mir eine Dreiviertelhose und ein T-Shirt an, schlüpfte in meine Halbschuhe und verließ das Haus.

Ich traf die kleine Gruppe vor dem Krankenhaus. Flynn eilte mir bereits entgegen. 

»Na endlich!« Er blieb stehen und musterte mich einmal von oben bis unten. »Was ist denn mit dir passiert?«

»Wieso?« Ich blickte zu Frau Karin, den Zwillingen und Selina hinüber, die ungeduldig vor dem Haupteingang warteten. 

»Du siehst aus, als hättest du heute Nacht kein Auge zugetan.«

»Hab ich auch nicht«, gab ich ehrlich zu, aber ehe er weiter nachfragen konnte, gesellte ich mich zu den anderen. Selina hatte natürlich nur einen äußerst missbilligenden Blick für mich übrig, doch heute glitt dieser einfach an mir ab.

Im Korridor vor der Intensivstation wurden wir von einer blonden Ärztin, Dr. Karawani, empfangen, mit der Frau Karin bereits telefoniert hatte. Sie unterrichtete uns darüber, dass immer nur zwei Personen gleichzeitig reindürften, da Lydia viel Ruhe brauchte. Ihr Zustand hatte sich nach wie vor nicht verändert und die Ärzte wussten nicht, wann sie wieder aufwachte.

In meinem Magen bildete sich ein Knoten, der von Minute zu Minute fester wurde. Ich fragte mich, ob Lydia aus dem Koma erwachte, sobald ich den Fluch brach, von dem sie gesprochen hatte. 

Ich biss mir auf die Unterlippe. Wenn sie doch nur wach wäre, dann könnte sie mir sagen, was sie meinte. So konnte ich mich nur durchs Dunkel tasten. 

Wieso hatte Lydia nicht vorher mit mir gesprochen? Das war die Frage, die mich am Meisten beschäftigte. Lydia war nicht sie selbst gewesen, als sie in jener Nacht an den Klippen erschienen war. Das stand mit Sicherheit fest. 

Die Ärztin führte uns durch einen hell erleuchteten Gang. Jemand kam uns entgegen. Ich blieb so ruckartig stehen, dass Flynn gegen meinen Rücken stieß. 

»Wieso bleibst du steh-« Er schob mich grob beiseite. »Was machst du hier?!«, fragte er wütend. Die Zwillinge tuschelten miteinander, während Frau Karin und Selina einen fragenden Blick miteinander austauschten. Aber Liam beachtete sie nicht. Sein Blick lag auf mir gerichtet. 

Er sah immer noch blass aus, aber nicht mehr ganz so schlimm wie heute Nacht. 

»Liam«, rief ich seinem Namen im Geist, aber ich prallte an einer unsichtbaren Wand ab und taumelte. 

»Alles in Ordnung?«, fragte mich Frau Karin. Als ich benommen nickte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Liam. »Was machst du hier?«, wiederholte sie Flynns Frage, nur deutlich sanfter. »Hast du Lydia besucht?«

Liam blieb etwas drei Schritte vor uns stehen. Erneut versuchte ich ihn telepathisch zu erreichen, aber dieses Mal fühlte es sich so an, als würde ein Ziegelstein auf meinem Schädel zerbarsten. Ich biss mir auf die Zunge, um nicht aufzustöhnen. Binnen Sekunden breitete sich ein metallener Geschmack in meinem Mund aus. 

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt