Ich kam nicht zur Ruhe. Frau Vogt hatte den Krankenwagen gerufen, als sie Liam dort mit abwesenden Blick hatte liegen sehen. Meine Hand, die seine Finger berührt hatten, brannte.
Zuhause setzte ich mich an meine Hausaufgaben, aber nachdem ich mir zum zehnten Mal das expressionistische Gedicht ›Punkt‹ von Alfred Lichtenstein durchlas und immer noch nicht angefangen hatte, mir Notizen zu machen, beschloss ich es ganz sein zu lassen. Ich stand auf, tigerte in meinem Zimmer auf und ab und entschied dann Kekse zu backen.
In der Küche hatte ich schnell alle Zutaten zusammen, weil meine Mum unter Backattacken litt, wenn sie ihre Periode bekam. Eine Eigenschaft, von der ich durchaus profitierte.
Ich wählte ein schnelles Rezept aus und konnte, nach nur einer knappen Stunde, das frische, noch warme Gebäck, in eine Brotdose packen.
Im Internet recherchierte ich, wie ich am besten zum Krankenhaus kam. Ich schaute auf meine Uhr. Meine Mum würde erst in einer Stunde aus dem Büro kommen, also schrieb ich ihr auf einen Zettel, dass ich unterwegs war, um die Stadt auskundschaftete, aber den geplanten gemeinsamen Abend nicht vergessen hatte.
Es gestaltete sich leicht das Krankenhaus zu finden, das mit einem riesigen Parkplatz und blühender Parkanlage etwas abseits der Stadt lag. Die weißen Fassaden strahlten im Sonnenlicht. Den Haupteingang bewachten zwei steinerne Himmelslöwen, die im krassen Kontrast zu dem Neubau standen. Kinder hatten Bildnisse von Pegasusen, Greifen und Drachen an die Seitenwände gemalt. Das Gebäude wirkte einladend und freundlich, als könnte in seinem Inneren absolut nichts Schlimmes passieren.
Ich marschierte direkt durch den Haupteingang auf den Tresen zu und verbarg meine Nervosität hinter einem freundlichen Lächeln.
»Hallo«, begrüßte ich den jungen Mann am Empfang, der seine große viereckige Brille zurechtrückte und geschäftig ein paar Akten zur Seite legte.
»Wie kann ich dir helfen?«, fragte er.
»Ich will jemanden besuchen. Er heißt Liam. Ich habe leider keinen Nachnamen, aber er wurde heute Morgen hier eingeliefert.« Der Mann tippte etwas in einen Computer und sah mich über den Rand seiner Brille hinweg an.
»Bist du eine Freundin?«
»Ja, sozusagen ... Wir gehen in die selbe Stufe.« Ich trommelte mit den Fingern auf der Ablage herum.
»Wenn das so ist ... « Er lächelte. »Du hast Glück, heute Morgen wurde nur ein Liam in deinem Alter eingeliefert. Zweiter Stock, Raum 24.«
»Danke!« Ich rückte meine Tasche zurecht und lief durch den breiten Korridor auf das Treppenhaus zu.
Mein Herz klopfte, als hätte es keine Lust mehr, in meiner Brust gefangen zu sein. Ich fragte mich, wie er auf meine Anwesenheit reagieren würde.
Zuerst lief ich langsam, Stufe für Stufe, aber dann nahm ich nur jede zweite und war einigermaßen außer Atem, als ich oben ankam. Der Geruch von Desinfektionsmittel und etlichen anderen Reinigern sprang mir entgegen, als ich die schwere Doppeltür aufzog. Vor mir lag ein endlos weißer Gang, nur unterbrochen von cremefarbenen Türen und einigen Bildern in Pastellfarben. Eine Krankenpflegerin lief mit einem Wagen umher, auf dem Medikamente und Verbandsmaterial lagen.
Ich atmete tief ein und aus und lief an den Zimmertüren vorbei. 20, 21, 22, 23 ... Raum 24 auf der linken Seite. Also dann, jetzt oder nie.
Ich klopfte an, obwohl ich bezweifelte, dass Liam so etwas wie »herein« sagen würde, also wartete ich einen Moment und öffnete die Tür.
Zuerst starrte ich nur auf ein leeres Bett, aber dann bemerkte ich das zweite, am Fenster. Er lag dort, beziehungsweise stütze er sich mit dem Unterarm auf der Matratze ab und sah mich an.
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Herz aus Salz und Glut
FantasyEin Junge, der schweigt. Ein Mädchen, das die Wellen bändigt. Und ein Geheimnis, das nur allein das Meer kennt. Yara zieht mit ihrer Mutter an die Nordseeküste, um ein neues Leben zu beginnen. In ihre Stufe geht Liam, der nicht spricht und niemanden...