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Ich lief zu Liam. Er hatte eine neue Tür, auf der ein Zettel klebte.

Hallo Liam,

ich war so frei, deine Tür auswechseln zu lassen. Da du dich nicht gemeldet hast, seit ich deinen Direktor an der Strippe hatte, dachte ich, ich komm mal vorbei. Deine Nachbarin hat sich über deine, ich zitiere: ›wild gewordene Freundin‹ beschwert.
Wie wär's, wenn du mir mal eine SMS schreibst und mir das erklärst? Oder hast du das in deinem Mönchskopf jetzt auch verlernt?

Gott verdammt. Melde dich.

Anna.

Einen Moment hielt ich inne. Anna musste seine Betreuerin sein, die unser Direktor) erwähnt hatte. Irgendwann würde ich sie sicher noch kennenlernen. Irgendwann, wenn das alles vorbei war, wenn alles wieder gut war. 

Ich klopfte an, aber Liam machte nicht auf. Seine Anwesenheit nahm ich auch nicht wahr, also rannte ich weiter – zu Klara. Sie würde mir sicher helfen können. 

Dieses Mal lief ich nicht am Strand entlang, sondern folgte einer schmalen Straße Richtung Innenstadt, um Zeit zu sparen. Die Altstadt erschien in Sichtnähe. Alte Backsteingebäude und eine kleine Kapelle, mit spitzen, gotisch angehauchten Turm. Doch auf halben Weg tauchte plötzlich ein VW neben mir auf. 

Meine Mum kurbelte das Fenster herunter. »Yara, steig in den Wagen. Wir fahren jetzt in die Klinik!«

Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Hast du gerade nicht gesehen, was ich gemacht habe?«

Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß, das ist alles sehr viel für dich. Aber man wird dir dort helfen können.«

»Spinnst du jetzt total?!«, schrie ich sie an. Wie deutlich sollte ich es ihr denn noch machen?! Sollte ich auf Liam in ihrem Garten landen, oder so schnell wie der Sturm rennen?! 

»Steig ein, Yara, sonst muss ich zu anderen Mitteln greifen!«

»Anderen Mitteln?« Was, wollte sie mir die Polizei auf den Hals hetzen?! 

»Du kannst nicht davor wegrennen.«

»Ja, da hast du recht«, sagte ich meiner Mum. »Aber vor dir alle Mal.« 

Sie öffnete die Wagentür, griff nach meinem Handgelenk und zerrte mich zu sich. 

»Du steigst jetzt ein, Yara!«

»Du kannst mich nicht zwingen!« 

»Du bist minderjährig. Entweder du kommst freiwillig mit, oder ich lasse dich zwangseinweisen.«

»Zwangs-ein-weisen?« Das Wort kam nur sehr holprig über meine Lippen. Meine eigen Mutter wollte mich zwangseinweisen lassen. Angewidert wollte ich mich von ihr losreißen, aber sie drückte ihre Finger in mein Fleisch. »Au, verdammt!«

»Yara, bitte!« Hinter uns tauchte ein Mercedes auf. Der Fahrer hupte. »Steig einfach ein.«

Mir kam ein gruseliger Gedanke in den Sinn. »Mum«, murmelte ich. »Willst- willst du mich untersuchen lassen, wegen, wegen der Bändigersache, eben im Wohnzimmer?«

»Oh, Kind!« Sie presste nun ihre Fingernägel in meine Haut. »Du kannst nicht das Wasser bändigen!« Hinter uns hupte es erneut. Mir wurde erst heiß und dann kalt. Wie konnte sie bestreiten, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte? Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte ich meinen Arm aus ihrem Griff und rannte los.

Ich war völlig außer Atem, als ich in Klaras Café ankam. Sie nahm mich sofort in Empfang und führte mich in das kleine Büro. 

»Was ist passiert, ist etwas mit Liam?«, fragte sie mich sofort. 

»Ich habe meiner Mum gezeigt, dass ich Wasser bändigen kann. Aber sie tut so, als hätte sie das nie gesehen. Klara, oh mein Gott, ich fühle mich gerade, als ob ich verrückt werde. Was, wenn ich das alles nur geträumt habe, was, wenn ich ... wenn ich wirklich verrückt werde, was, wenn, was wenn ich, ich, oh mein Gott, am Ende bist du nicht echt und ich rede mit dem Comp-« Klara klatschte mir eine und ich wich erschrocken zurück. 

»Entschuldige«, sagte sie schnell. »Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.« Sie presste die vollen Lippen zusammen. »Wage es nicht, Yara, das alles als Wahnsinn abzutun!« Ihre Nasenwände blähten sich. Ich konnte ihre plötzliche Wut nicht verstehen und schlang die Arm um meinen Oberkörper. 

»Menschen sehen nur das, was sie sehen wollen«, fuhr Klara fort. »Du hast die Seele deiner Mutter überfordert, indem du ihr etwas gezeigt hast, was sie für unmöglich gehalten hat. Dass sie sich nicht daran erinnern kann, ist eine Art Schutzreaktion.«

Ihre Worte erleichterten mich. Ich ließ mich erschöpfte auf die Kante des Schreibtisches sinken. 

»Vermutlich hast du recht«, murmelte ich und rieb mir verlegen über die Wange. 

»Das ist jetzt auch überhaupt nicht wichtig«, sagte sie und blickte mich ernst an. »Du warst noch nicht auf der ... Du bist Lydias Worten noch nicht nachgekommen, wieso nicht?«

»Weil ... ich bin mir nicht sicher, wie und, ich bin noch nicht dazu gekommen. Lydia liegt im Koma und ich ... musste mich um Liam kümmern. Außerdem, woher weißt du das?«

»Ich hätte es gespürt.«

»Dann sag mir, wie ich auf die Insel komme«, verlangte ich. »Sage mir, was mich erwartet, wenn ich dort bin und was ich dann machen soll!«

»Das kann ich nicht. Es liegt an dir. Verdammt!« Sie ging sich durch die Haare. »Du bist so unwissend und naiv. Und anstatt dich vorzubereiten, kommst du hier her, wegen deiner Mutter. Aber deine Mutter ist jetzt egal. Ich habe keine Zeit für deine dummen Problemchen. Liam hat keine Zeit mehr! Ich ... «

Ich starrte sie fassungslos an. Wurden denn jetzt alle verrückt? 

»Wieso hilfst du mir dann nicht?«, sagte ich mit Tränen in den Augen. »Liam will mir nicht helfen, auf die Insel zu kommen. Und ich habe kein Motorboot mehr. Wenn du so viel klüger bist als ich, wieso kommst du dann nicht mit mir? Wieso gehen wir nicht zusammen auf die Insel?«

»Du brauchst kein Boot um dorthin zu kommen. Und ich kann dich nicht begleiten, weil ich nicht über dieselben Fähigkeiten verfüge wie du. Mein Gott, wie kann man nur so beschränkt sein!?«, rief sie auf und ich wich vor ihr zurück. Ich hatte Klara noch nie so wütend erlebt. »Du kennst noch nicht mal ihren Namen.«

»Ihren Namen?«

»Weißt du was?! Ich habe mehr von dir erwartet. Ich habe großes in dir gesehen, aber nun bin ich mir nicht mehr sicher.«

Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Mir wurde das alles zu viel. Ich drehte mich auf dem Absatz um und verließ die ›Oase‹. 

Auch, als ich hörte, wie sie meinen Namen rief, kehrte ich nicht um. In gewisser Weise musste ich ihr recht geben. Ich durfte keine Zeit mehr verlieren. Aber ich hätte eine Freundin gebraucht, die für mich da war und mich nicht anschrie, oder mir sagte, sie sei enttäuscht von mir. Was war nur in sie gefahren? Lydias Zusammenbruch war nicht mal 48 Stunden her. Die Ereignisse überschlugen sich in solch einer Geschwindigkeit, dass ich mich überfahren fühlte. Am liebsten hätte ich mich hingesetzte und wäre einfach nicht mehr aufgestanden. Aber ich durfte jetzt nicht resignieren. 

Ich lief zu der Klippe, an der Liam und ich uns in die Wellen gestürzt hatten, in der Hoffnung, ihm dort zu begegnen. Doch er war nicht da. 

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt