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Meine Mum meckerte nicht, als Klara kam und sich ihr vorstellte. Und das war definitiv kein gutes Zeichen. Ich wusste, dass ich eine gefährliche Grenze überschritten hatte, als ich nicht gleich nach der Schule nach Hause gekommen war. Wenn sie jetzt auch noch herausfand, dass ich die letzten Stunden heute geschwänzt hatte, um mit Liam zusammen zu sein, sah es düster für mich aus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis meine Mum explodierte, aber gerade gingen mir einfach andere Dingen durch den Kopf. 

Ich führte Klara in mein Zimmer und bedeutete ihr, sich auf mein Bett zu setzen. Ihr Blick wanderte über die vielen Zeichnungen an den Wänden, aber sie sagte nichts. 

Etwas unsicher lehnte ich mich neben die Tür und musterte die junge Frau in dem kirschroten Kleid. Ihre dunklen Augen versprühten Wärme und ich spürte wie mein Inneres in Bewegung geriet. 

»Was ist passiert?«, fragte sie, obwohl ich noch überhaupt nichts gesagt hatte. 

»Wenn ich dir das erzähle, wirst du mich für verrückt halten«, sagte ich und strich mir in einer fahrigen Bewegung einige Haare aus der Stirn. 

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Klara ruhig und neigte den Kopf in einer majestätischen Bewegung zur Seite. »Liam ist krank, nicht wahr?«, fragte sie leise. 

»Wie kommst du darauf?«, erwiderte ich, zu müde, um überrascht zu sein. 

»Ich kann Auren sehen«, sagte sie schlicht. »Zumindest so etwas in der Art. Seine ist von einem feurigen Rot. Aber ... ich habe auch dunkle Flecken darin gesehen, die ... es wirkte, als würden sie seine Lebensenergie verzehren.« Klara verschränkte die Finger ineinander. »Ich wollte dir das schon eher sagen, aber ich wusste nicht wie ... « Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt hältst du mich wahrscheinlich für verrückt.«

»Nein.« Seufzend ließ ich mich neben sie auf die Matratze sinken. »Überhaupt nicht.« Ich rieb mir über das Gesicht. Die Ereignisse der letzten Tage huschten mit solcher Geschwindigkeit an mir vorbei, dass ich laut aufstöhnte und mich gegen ihre Schulter fallen ließ. Klara legte fürsorglich einen Arm um mich. 

»Du kannst mit mir über alles sprechen«, murmelte sie. »Ich halte dich ganz sicher nicht für verrückt, das verspreche ich dir.«

Ich schloss die Augen und sah mich vor meinem eigenen Ozean wieder. Ein Ozean aus Fragen, in denen ich ertrank. Eine Hand streckte sich mir entgegen. Eine Hand, die mich aus dem Spinnennetz befreien wollte, in dem ich mich doch mit solcher Leidenschaft verheddert hatte. Es war nicht Lydias Hand, sondern Klaras und dieses Mal ergriff ich sie.

Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Ich erzählte ihr von meiner Fähigkeit, von der Insel und von den Stimmen, die ich hörte. Ich erzählte ihr von dem Mondstein und meinem Vater. Ich erzählte ihr von Flynns seltsamen Andeutungen und Lydias neurologischen Aussetzern. Ich erzählte ihr von Liams Bluthusten und seiner schuppigen Narbe an der Brust. Nur den Part, indem er mich so heftig gegen die Wand geschleudert hatte, dass die Kacheln dort bröckelten, ließ ich aus. Klara sollte nicht schlecht über ihn denken. Außerdem war ich nicht unschuldig an der Situation. Ich war ihm zu nahegetreten. Viel zu nahe. 

»Denkst du, Liam kann diese Stimmen auch hören?«, beendete ich meinen Bericht heiser. Ich wusste nicht, wie lange ich gesprochen hatte.

Klara richtete sich auf, zupfte an ihren Haarspitzen und sah mich einen Moment mit ausdrucksloser Miene an. Dann sagte sie: »Du hast eine besondere Verbindung zum Meer. Das konnte ich sofort spüren. Liam ist auf einer Art mit der Natur verbunden, die ... das ist schwer zu beschreiben. Aber du, du bist ... « Sie lächelte verträumt. »Du bist das Meer und der Sturm. Ich glaube, das Herz der Nordsee spricht zu dir. Und ich glaube, das kannst nur du hören, meine Liebe.« Klara legte ihre Hände auf den Schoß. Erneut glitt ihr Blick über meine Bilder. »Ich lausche oft den Wassergeistern und der Melodie des Meeres. Aber so nah wie du werde ich dem Geheimnis niemals kommen.«

»Welches Geheimnis?«, fragte ich atemlos. 

»Das Geheimnis der Tiefe.« Sie lächelte, aber es wirkte traurig. »Die Welt ist mehr als wir sehen.«

»Ja«, stimmte ich ihr zu. »Das musste ich in den letzten Tagen selbst miterleben.« Ich betrachtete Klara von der Seite und auf einmal wirkte sie uralt auf mich wie eine Elfe, immer jung und schön, aber dennoch von Jahrzehnten, wenn nicht sogar Jahrhunderten gezeichnet. Vielleicht lag es daran, dass sie ein sehr spiritueller Mensch zu sein schien. 

»Woher weißt du das alles?«, fragte ich. 

»Ich beobachte einfach nur«, sagte sie und blickte mich an. Sie zog ihren Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln nach oben. »Manche Menschen haben eine besondere Begabung. Deine steht in Verbindung mit dem Meer und dem Sturm. Meine ist es, Dinge zu erkennen und zu verstehen, die anderen verborgen bleiben.«

»Das ist eine sehr schöne Begabung«, sagte ich und meinte es auch so. Wie oft stellte ich mir Fragen über das Leben, wie oft verzweifelte ich an meinen eigenen, wirren Gedanken, die sich mir einfach nicht erschließen wollten?

Klara seufzte. »Ja, aber sie macht auch sehr, sehr einsam.«

Ich legte ihr eine Hand auf den Rücken. »Ich bin froh, dass ich dich habe. Zu zweit ist man gleich weniger allein.« Zu dritt, verbesserte ich mich in Gedanken. Ich musste an Liam denken, und fragte mich, wo er gerade war und was er machte. Sehnsucht strömte durch meine Adern . Mein Herz flatterte, wenn ich an ihn dachte. »Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll«, sagte ich unterdrückt seufzend.

Klara schwieg einen Moment. Eine seltsame Schwere umgab sie, machte sie einen Moment unnahbar, aber dann lächelte sie mich an und ihre Augen glitzerten dabei, als würden dahinter Lagerfeuer brennen. 

»Du musst einfach nur zuhören, Yara.«

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt