Wir unterhielten uns noch die ganze Nacht. Sprachen über das Meer, die Sterne und die seltsamen Wege, die das Schicksal einen manchmal offenbarte.
Ich gab ihr meine Handynummer und als wir vor den Laden traten, leuchtete der Morgen bereits violett am Horizont.
Klara fuhr mich, nach dem wir uns ein paarmal verfahren hatten, direkt vor meine Haustür.
»Ich komm dich besuchen«, verabschiedete ich mich von ihr und schloss die Haustür auf, bereit, mich sofort in mein Bett fallen zulassen.
Ich fühlte mich nach der heutigen Nacht unglaublich aufgewühlt und wollte nur noch meine Augen schließen.
Doch, als ich die Treppe zu meinem Zimmer hochgehen wollte, sah ich sie auf dem Sofa sitzen.
»Mum ... «, krächzte ich und hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst.
»Tochter«, sagte sie trocken, stand auf und sah mich mit ausdrucksloser Miene an. »Wo warst du?«
»Ich ... nur spazieren.« Ich räusperte mich und versuchte krampfhaft so zu wirken, als wäre ich nicht schon die ganze Nacht unterwegs gewesen.
»Ich habe um halbdrei in dein Zimmer gesehen. Dein Bett war leer.«
»Kontrollierst du mich etwa?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das ist wohl notwendig!« Ich sah wie ihr Unterkiefer arbeitete. Sie war richtig wütend auf mich.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich brauchte einen Nachtspaziergang.«
»Hast du gesehen wie es heute gestürmt hat? Ich war kurz davor die Polizei zu rufen!« Sie hielt mir den Zeigefinger und Daumen vor die Nase. »Kurz davor! Man kann dich also nicht alleine lassen, wie es aussieht.« Ich stöhnte und rieb mir über die Augen. »Und schau dich mal an, du bist totenblass! Hast du etwa getrunken?«
»Nein.« Zumindest fast nichts. Ich lehnte mich gegen das Treppengeländer. »Ich war nur spazieren. Mehr nicht.«
»Das wird Konsequenzen haben, junge Dame!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mich starr an.
»Ich will schlafen«, brachte ich hervor und wandte mich ab. »Wir sind noch nicht fertig!«, rief meine Mum. »Der Bootsschlüssel fehlt nämlich auch!«
Sofort erstarrte ich zu Stein. Scheiße, scheiße, scheiße – warum musste ihr das ausgerechnet jetzt auffallen? Kurz überlegte ich, so zu tun, als ob ich keine Ahnung hatte, doch, wenn es nicht gerade um Übernatürliches ging, was ich eine miserable Lügnerin.
»Ich ... bin kürzlich damit rausgefahren«, sagte ich etwas kleinlaut.
»Und wann?«
»Schon etwas her«, sagte ich schnell und schaute auf meine Füße.
»Und wo ist der Schlüssel, wenn es schon etwas länger her ist? Würdest du dich bitte zu mir umdrehen, junge Dame?«
Ich biss auf den Nagel meines kleinen Fingers und drehte mich um. »Den hab ich verloren«, murmelte ich.
»Wir bitte?« Sie stemmte die Hände in die Hüfte und schnaubte. »Verloren? Willst du mich für blöd verkaufen?«
»Er ... ähm, er ist mir ins Wasser gefallen.«
»Und deine Kette? Die trägst du auch nicht mehr. Ist sie dir auch ins ... Wasser gefallen?«
»Meine Kette?« Ich griff mir an die Brust. Wie sollte ich ihr das erklären?
»Hat es etwas mit Dad zu tun?«, fragte meine Mum, nun deutlich sanfter.
»Wieso mit Dad?«
»Ach Yara, Süße.« Sie kam die Treppe herauf und nahm mich in die Arme. »Ich kenn dich doch auch ein kleines bisschen. Manchmal kannst du so stürmisch sein. Du wolltest hier ein neues Leben anfangen ... Ich kann verstehen, wenn du die Sachen loswerden wolltest, damit sie dich nicht immer so schmerzlich an ihn erinnern.«
»Die Sachen«, wiederholte ich etwas perplex, aber dann verstand ich. Sie dachte, ich hätte den Mondstein und den Schlüssel mit Absicht im Meer versenkt. Na, ganz toll.
Meine Mum ließ mich los und zog die Brauen zusammen. Auf einmal sah sie wieder aus, als würde sie mich am liebsten am Kragen packen und gegen die Wand schleudern. Diese Frau konnte manchmal echt gruselig sein.
»Das alles ändert aber nichts daran, dass du Hausarrest bekommst! Schleichst dich einfach aus dem Haus, streunst die ganze Nacht durch die Gegend, treibst dich mit weiß Gott wem, weiß Gott wo, herum, und dabei ist es kaum drei Tage her, da bist du mit Fieber in der Küche zusammengebrochen!« Sie fuhr sich in einer fahrigen Bewegung über die Haare. »Wie es scheint, ist dir dein Verantwortungsbewusstsein völlig abhandengekommen.«
»Ach komm schon, Mum. Ich bin siebzehn, werde dieses Jahr noch achtzehn. Ich habe den ersten Dan in Aikido, was soll mir schon passieren? Außerdem bin ich zu alt für Hausarrest.« Das konnte sie nicht mit mir machen.
Sie hob die Brauen und sah dabei aus, als würde sie mich zu einem Sparringkampf herausfordern wollen. Natürlich einem rein verbalen.
»Das hättest du dir vorher überleben müssen! Außerdem bist du hier nicht in Berlin. Wenn dich hier einer entführt, hört dich keiner schreien.«
Ich wollte den Mund aufmachen und etwas erwidern, aber meine Mum hob drohend den Finger. »Keine Diskussion. Dieses Mal bist du wirklich zu weit gegangen! Weißt du was, ich mag dich jetzt auch nicht mehr sehen, verschwinde in dein Zimmer!«
Wütend presste ich die Luft aus meinen zusammengedrückten Lippen, drehte mich auf dem Absatz um und tat ihr den Gefallen, in mein Zimmer zu verschwinden. Man konnte mit ihr nicht vernünftig reden. Sie behandelte mich wie einen vierzehnjährigen Teenager, der soeben von seiner ersten durchgemachten Party nach Hause kam.
Außerdem, dachte ich, wenn mich jemand am Strand entführen wollte, dann könnte ich ihn einfach mit meinen Wasserbändigerfähigkeiten verjagen. Aber das konnte ich ihr natürlich nicht sagen.
Niemals.
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Herz aus Salz und Glut
FantasyEin Junge, der schweigt. Ein Mädchen, das die Wellen bändigt. Und ein Geheimnis, das nur allein das Meer kennt. Yara zieht mit ihrer Mutter an die Nordseeküste, um ein neues Leben zu beginnen. In ihre Stufe geht Liam, der nicht spricht und niemanden...