-11.1- Liams Geheimnis

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Liams Blick lag auf dem Mädchen mit den Sturmaugen. Sein Gesicht, verzerrt in einer Maske aus Schmerz.

»Wieso hast du das getan?«, rauschten seine Gedanken durch sie hindurch. Bitter und wie das Echo, all der einsamen Jahre, die er hinter sich gebracht hatte. »Wieso hast du versucht, mein Innerstes zu ergründen und dich dann abgewandt?«

Er schloss die Augen. Blut benetze seine Lippen, floss seine Mundwinkel hinab und tropfte auf den Boden. Ein Boden aus pechschwarzem Sand. 

Das Mädchen, zu welchem das Meer schrie, versuchte etwas zu sagen, aber ein wütender Sturm riss all ihre Worte von den Lippen und trug sie weit fort, auf eine Insel, die unheilvoll am Horizont lag.

Eine Frau weinte. Die rote Frau saß alleine zwischen brennenden Ruinen und weinte Federn aus Blut und Asche, die über die Nordsee trieben. Aus dem Wasser blickten Gesichter, auf deren Antlitz stummes Entsetzen geschrieben stand. Eines davon sah dem Sturmmädchen direkt entgegen. Es zeigte eine Person, die Yara wiedererkannte. Lydia.

Wirre Worte sprudelten aus dem Mund geformt aus dunklen Meereswogen.

»Die Insel ... Das Herz ... Geh ... Die Insel ... Das Herz ... Insel ... Herz.« Das Gesicht schrie ihr entgegen und wurde von unsichtbarer Macht zurück unter die Oberfläche gezogen.

Unheilvoller Wind wisperte um sie herum. Das Mädchen mit dem Herz aus Salz und Sturm wollte aufwachen.

Ivie spürte den Splitter in ihrer Brust brennen. Sie war verflucht und dieser Fluch formte Schattenfinger. Schattenfinger, die sich nach Yara ausstreckten und eiskalt über ihre Haut legten.
»Ich erkenne dich. Ich erkenne dich. ICH ERKENNE DICH.«

Ich erwachte schweißgebadet. Erneut. Doch dieses Mal war es schlimmer. Mein rasendes Herz wollte sich nicht mehr beruhigen und die Angst, jeden Moment an einem Herzinfarkt zu sterben wie mein Vater, trieb meinen Puls noch zusätzlich in die Höhe.

Ich stolperte in die Küche und hielt meinen Mund unter fließendes Wasser. Doch auch etwas zu trinken, konnte mich nicht beruhigen. Ich sah mich hektisch in dem großen Raum um. Überall lauerten Schatten und ich meinte sie hin und her huschen zu sehen. 

Ohne darüber nachzudenken stürzte ich im Schlafanzug nach draußen in die Nacht und rannte zum Strand. 

»Was willst du von mir?«, keuchte ich und blieb am Ufer stehen. 

Du musst nur zu hören, Yara – Klaras Worte kamen mir auf einmal wie Hohn vor. Was brachte es mir, zuzuhören, wenn ich es nicht verstand. 

Am Horizont flackerte die Insel auf. Meine Beine zitterten und ich sackte auf die Knie. Eine Welle umspülten meine Beine und ich hörte leise die uralte Melodie des Meeres. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Mein Puls, der eben noch bei 190 gelegen haben musste, beruhigte sich. Ich atmete langsam und gleichmäßig. Kleine Lichter erhoben sich aus dem Wasser und legten sich auf meine Hände und die Stirn. Sie fühlten sich kribbelnd und kühl an. Es waren die selben Wesen, die auch Liam umgeben hatten. Wassergeister. 

Ich legte den Kopf in den Nacken, in der Hoffnung ein paar Sterne zu sehen, aber eine dünne Schicht aus Wolken bedeckten den Himmel und nur der zunehmende Mond leuchtete dahinter hervor, als trüge er ein Seidenkleid, um sich zu verhüllen. 

»Willst du nicht von mir gesehen werden?«, murmelte ich. Die kleinen Geister huschten unter meinen Schlafanzug und hinterließen Bahnen aus Salzwasser. Mein überhitzter Körper kühlte binnen weniger Sekunden ab und die Wesen verschwanden wieder im matten Graublau der Nordsee. 

Fröstelnd rieb ich mir über die Arme. »Danke«, sagte ich und stand auf.

Eine Weile lief ich den Küstenverlauf entlang, denn an Schlafen wollte ich nicht mal denken. Meine Träume waren schon immer sehr lebhaft und bunt gewesen, aber noch nie so intensiv, dass sie mich wie mein eigener Schatten nach dem Aufwachen weiter und weiter verfolgten. 

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt