-5.1- Unerwarteter Besuch

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Blut klebte an der Frau mit dem roten Haar. So viel Blut. Es benetze den hellen Sand unter ihren Füßen, wurde Sinnbild für ihre befleckte Seele. Sie blickte zu der Insel am Horizont. Der Wind trug die Schreie all der Opfer zu ihr herüber und damit auch die Asche und den Gestank nach versenktem Fleisch. Ivie schlang ihre Arme um den Oberkörper und drückte sich die langen Fingernägel in die Haut. Doch der Schmerz konnte das Gefühl unendlicher Verzweiflung nicht vertreiben. Die Seelen weinten, das Meer schrie und das Lied, das uralte Lied, verstummte. Tränen rannen der roten Frau über die blutverkrusteten Wangen. Sie fasste sich an die Brust und ertastete die Splitter ihrer verlorenen Liebe. 

»Makan«, flüsterte sie in den aufbrausenden Sturm, der über das Meer zog, um wütender Zeuge ihrer Tat zu werden. Ivie wusste, dass der Wind ihr nie mehr gehorchen würde, ebenso wenig der Sand ihrer weit entfernten Heimat. 

»Sora ist soeben gefallen«, ertönte eine verhasste Stimme hinter ihr. Sie wandte sich nicht um, denn, würde sie dem alten Mae in die Augen schauen, würde sie ihm auf der Stelle das Herz aus der Brust reißen. Doch für heute konnte sie kein Blut mehr ertragen. 

»Du hast das richtige getan, Ivie.«

»Ich habe diesen Namen verwirkt«, flüsterte sie. »Denn ich spüre wie die Erde weint.«

»Ja, sie trauert. Aber nun kann sie auch heilen. Wir alle können nun heilen.«

»Wie kannst du es wagen!«, knurrte die rote Frau und musste ein Schluchzen unterdrücken. »Von uns allen zu reden?! Sora hat mir alles genommen. Du hast mir alles genommen.« Erneut drang dieses entsetzliche Schreien an ihre Ohren. Ein Schreien, ungehört von den unwissenden Menschen. Ein Schreien, das erst verstummen würde, wenn alles vorbei war. Die rote Frau würde beenden, was sie angefangen hatte. Schmerz drohte ihre Brust zu zertrümmern und sie ließ sich auf die Knie fallen.

Ivie legte den Kopf in den Nacken, schauten zu den Wolken empor, die den Mond bedeckten und fing selbst an zu schreien.

Ich erwachte von meinem eigenen Schrei und fuhr keuchend auf. Ich sah die verdammte Insel so plastisch vor mir schweben, als säße ich wieder in dem Boot. Erneut drückten Wassermassen gegen mich. Panik legte seine eisigen Klauen um meine Kehle und drückte zu. Ich konnte nichts anderes tun, als verzweifelt nach Luft zu japsen. 

Jemand riss meine Zimmertüre auf. »Yara?!«

Meine Mum eilte zu mir und rüttelte mich unsanft an der Schulter. »Was ist denn los? Beruhige dich!« Der Abdruck meines Traumes verblasste allmählich und ich bekam wieder etwas Luft. »Tief einatmen, Süße. Du hast nur schlecht geträumt.« Ich atmete tief ein und hustend wieder aus. »So ist es gut.« Sie strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Alle ist gut.« 

Meine Hand huschte automatisch an meine Brust. Ohne den Mondstein fühlte ich mich nackt. Nackt und ungeschützt. Meine Mum beugte sich vor. »Ich mach das Fenster auf. Das hilft sicher.«

»Nein!« Ehe ich wusste, was ich da tat, war ich aufgesprungen und stellte mich davor. »Nicht aufmachen! Eine Frau schreit! Da schreit eine Frau!« Und das Meer schreit auch und die Erde weint und am Horizont ist eine Insel, die nur ich sehen kann.

»Wieso denn nicht? Und welche Frau?« Meine Mum setzte sich auf die Matratze und zog mich zu sich. »Du bist ja ganz wirr.« Sie berührte meine Stirn. »Kein Wunder, du glühst immer noch.«

»Ich ... ich hab etwas ... seltsames geträumt.«

»Willst du mir davon erzählen?«

»Ich weiß nicht mehr ... « Ein Zittern wanderte durch meine Muskeln und ich ließ mich kraftlos gegen ihre Schulter sinken. Meine Mum nahm ich in die Arme. Ich blieb so verharren, bis sich mein Atem wieder normalisiert hatte, dann flüsterte ich: »Mum, kannst du mir einen Holundertee machen?«

»Natürlich.« Sie küsste mich auf die Stirn und stand auf. »Willst du mit runterkommen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Mit viel Honig, bitte.«

Nachdem meine Mum die Tür hinter sich zugezogen hatte, schnappte ich mir mein Handy, das auf dem Schreibtisch lag und rief Mia an. 

»Yara«, nuschelte eine verschlafene Stimme an mein Ohr und ich hätte am liebsten losgeheult, so erleichtert fühlte ich mich, sie zu hören. »Ich hoffe du hast einen guten Gru-«

»Ich habe Angst«, unterbrach ich sie. »Und ... und nicht viel Zeit. Meine Mum kommt gleich wieder und ich will nicht, dass sie mitbekommt, dass ich ... « Ich musste schlucken. 

»Hey, ganz ruhig. Was ist denn los? Wovor hast du Angst?« Mit einem Mal klang meine Freundin hellwach. 

»Ich wäre fast ertrunken«, platze es aus mir heraus und dann erzählte ich ihr in aller Eile von dem ominösen Retter, der nach Zedernholz duftete, genau wie Liam, oder auch nur der Wald am Silberbach. Ich erzählte ihr von dem Jungen, der nie sprach und dem seltsamen Traum, von der roten Frau. Nur den Teil mit der Insel ließ ich aus. Aber es reichte schon, mir den ganzen Rest von der Seele zu reden. 

»Du wärst fast ertrunken?! Oh mein Gott, Yara! Dich kann man einfach nicht alleine lassen. Und du weißt nicht, wer dich gerettet hat? Hast du sein Gesicht nicht gesehen?«

»Nein, ich ... ich musste ziemlich weggetreten sein.« Ich vernahm das Knarzen der Treppenstufe. »Mia, ich muss jetzt auflegen. Schreib mir eine Mail, was du über Liam denkst, ok? Danke.« Ich legte auf – gerade rechtzeitig, denn meine Mum kam mit einer dampfenden Tasse in mein Zimmer. Es war nicht so, dass sie etwas dagegen hatte, wenn ich mit Mia telefonierte, aber ich wollte nicht, dass sie glaubte, ich würde ihr etwas verheimlichen. Vor allem jetzt nicht, da ich mich nicht sonderlich zurechnungsfähig fühlte. 

Dieses Gefühl hielt auch noch den ganzen nächsten Tag und den Tag darauf an. Ich lag mit Fieber im Bett, tauschte ein paar SMSen mit Mia aus, und wagte mich nicht mal nach draußen, um mir den Sonnenaufgang anzusehen. Selbst der Gedanke daran, Liam könnte am Strand sitzen, konnte mich nicht motivieren, außerdem lag er ja vermutlich mit demselben Virus flach wie ich. Oder aber, ich war krank, weil ich fast ertrunken wäre und er, nun ja, am Ende hatte er Fieber bekommen, weil er mich gerettet hatte wie in dieser Folge von Jeanne die Kamikaze Diebin, in der Chiaki Maron aus den Wellen fischt. Aber das war ein Anime. Das echte Leben sah ganz anders aus.

Wenn meine Mum gerade nicht im Büro saß, wuselte sie ständig um mich herum, maß mein Fieber oder kochte alle erdenklichen Variationen von Hühnersuppe. Dabei musste ich wieder an Liam denken, der ganz alleine in diesem Krankenzimmer gelegen hatte. 

»Du?«, fragte ich meine Mum, am Abend des zweiten Tages, »wenn ich im Krankenhaus liegen würde, dann würdest du mir doch Sachen vorbeibringen, oder? Bücher, Schokolade, Obst, oder so etwas.«

Sie hatte mich nur äußerst besorgt angesehen und mich mit dem Fieberthermometer ins Bad geschickt, also ließ ich das Thema bleiben. 

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt