Nach dem Tumult, den wir im Krankenhausgang veranstaltet hatten, hatte Lydias Ärztin entschieden, uns doch nicht zu ihr zu lassen. Nur Flynn durfte kurz nach ihr sehen, weil sich ihre Familien kannten und er bestand darauf, mich mitzunehmen. Regungslos stand ich vor ihrem Bett, während Flynn ihr durch das dunkelblonde Haar strich. Lydia sah bleich aus. Sie war an zahlreiche Monitore verkabelt und musste künstlich beatmet werden. Ich dachte an den Traum mit den Gesichtern aus Meerwasser zurück. Vielleicht träumte sie von der Nordsee. Ich hoffte nur, es waren angenehmer Träume, als die, die mich heimsuchten. Flynn sagte nichts. Doch sein Schweigen gab mehr preis als Worte.
Schau nur, Yara, wollte er mir sagen. Schau nur, was mit ihr passiert ist. Schau nur, wie weit das alles reicht, in welcher Gefahr du schwebst.
Oder wollte ich mir das nur selbst sagen?
»Lydia wach auf«, dachte ich und versuchte ihr Unterbewusstsein zu erreichen. Doch das funktionierte nicht. »Wach auf. Bitte.«
Nach dem kurzen Besuch sah Flynn ziemlich fertig aus. Sein Schweigen manifestierte sich in ein bedrückendes Gefühl.
Auch mit mir sprach er nicht, so tief schien er in Gedanken versunken zu sein. Ich konnte ihn verstehen. Ich kannte das Gefühl nur zu gut.
Irgendwie brachte ich auch den Schultag hinter mich. Frau Karin besprach mit uns, was in der letzten Biologieklausur vor den Ferien alles drankommen würde. Doch ich hörte nur mit einem halben Ohr zu. Fassungslos starrte ich auf meinen Kalender. Es waren gerade mal anderthalb Wochen vergangen, seit ich Liam das erste Mal angesprochen hatte. Ich fühlte mich aber, als wären Jahre vergangen.
Wie konnte so viel, in so kurzer Zeit geschehen? Ich begriff es einfach nicht.
Es mussten höhere Mächte am Werk sein. Damit meinte ich nicht die Insel, sondern so etwas wie das Schicksal, oder Gott – jenes große Bewusstsein eben, das die Menschen in so vielen unterschiedlichen Formen anbeteten. Ich war noch nie Atheist gewesen, allerdings auch nicht sonderlich religiös.
Doch es gab Wunder. Es gab sie. Und daran hielt ich mich fest. Wenn das Schicksal mich zu Liam geführt hatte, dann würde es mir auch einen Weg zeigen, ihn zu retten.
Nach der Schule wollte ich schnell nach Hause, um etwas Geld aus meiner Spardose zu holen. Ich wusste nicht, was Liam gerne aß, außer Eis, also wollte ich etwas bei dem kleinen Chinesen in der Innenstadt holen. Wenn ich Liam heute nicht dazu brachte, mit mir zusammen auf die Insel zu gehen, müsste ich es wohl oder übel alleine schaffen.
Was Liam auch immer solche Angst machte, es würde mich nicht aufhalten. Schließlich ging es dabei um sein Leben. Er konnte nicht von mir erwarten, hier zu bleiben und Däumchen zu drehen, während es ihm immer schlechter ging. Diese ›leidender Held Nummer‹ durfte er sich getrost sparen.
Doch als ich die Einfahrt zu unserem Haus hochlief, wusste ich schon, dass dieser Tag in einer Katastrohe enden würde. Der VW meiner Mum stand nämlich vor der Garage.
Der Knoten in meinem Magen meldete sich wieder, als ich die Tür aufschloss und in den Flur trat.
»Mum?«, fragte ich unsicher in eine Stille hinein, die mir absolut nicht gefiel. Sie brodelte leise, bereit, jeden Augenblick zu zerspringen.
Es war nicht die Art von Stille, die man empfand, wenn man ein leeres Haus betrat, sondern eine Art von Stille, die gefüllt war mit unausgesprochenen Worten , mit einem Gewitter, das sich in den nächsten Minuten entladen würde.
Meine Mum kam aus dem Wohnzimmer gestürmt und zog mich hastig in ihre Arme.
»Alles wird wieder gut, Yara«, schniefte sie. »Das verspreche ich dir.«
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Herz aus Salz und Glut
FantasyEin Junge, der schweigt. Ein Mädchen, das die Wellen bändigt. Und ein Geheimnis, das nur allein das Meer kennt. Yara zieht mit ihrer Mutter an die Nordseeküste, um ein neues Leben zu beginnen. In ihre Stufe geht Liam, der nicht spricht und niemanden...