-4.1- Fieber

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Das nächste Mal sah ich Liam in den letzten beiden Stunden wieder. Sport. Der Kurs traf sich am Silberbach, um Laufen zu gehen. 

Meine Wenigkeit würde mit dem Ausdauerlauf keine Probleme bekommen. Seit ich gehen konnte, hatte mich meine Mum in Kampfsportvereine gesteckt, damit ich vor potentiellen Verbrechern und Vergewaltigern gewappnet war. Zuerst Judo, dann Aikidō. Es gab Zeiten in denen ich dreimal in der Woche trainiert hatte, doch als die Schule schwerer wurde, nur noch einmal und nach dem Tod meines Vaters war ich nur noch sehr unregelmäßig hingegangen. Hier gab es keinen Aikidōverein und ich konnte mich noch nicht wirklich mit Taekwondo anfreunden.

Ich schielte zu Liam, der gegen eine Birke gelehnt stand. Den Kopf hatte er in den Nacken gelegt. Kurz überlegte ich, ob ich ihn ansprechen sollte. Aber dann traf Frau Vogt, unsere Sportlehrerin, mit den restlichen Schülern ein. Flynn unterhielt sich angeregt mit Cara, seiner Exfreundin und Sportass der Schule, doch als er mich sah, hörte er abrupt auf zu reden, senkte den Blick, klopfte Cara auf die Schulter und gesellte sich dann zu ... Liam. 

»Hey, Liam«, sagte er laut und ich hielt gebannt die Luft an. Jedes Mal, wenn ihn jemand ansprach – was selten genug vorkam – hoffte ich, seine Stimme zu hören. Aber Liam nickte nur. Selbst die frische Luft schien ihm keine Farbe ins Gesicht zaubern zu wollen. Er sah nicht gesund aus. 

»Lass uns ein Wettrennen machen. Wer als erster wieder hier ist«, schlug Flynn grinsend vor. Liam wandte das Gesicht ab, was wohl so viel wie: »keine Lust« bedeutete.

»Ach komm schon.« Flynn stellte sich vor ihn. »Wie früher. Wir hängen die alle locker ab.« Ich fragte mich, ob Flynn und Liam befreundet, oder es zumindest einmal gewesen waren.

Liam trat einen Schritt zurück, nickte dann aber zu meiner großen Überraschung.

»Siehst du, geht doch«, sagte Flynn und kehrte dann zu Cara hinüber, die zwar schnell lief, doch mit Flynn nicht mithalten konnte.

»Alle mal herhören!«, rief Frau Vogt und pfiff in ihre Trillerpfeife, um die Aufmerksamkeit der Schüler zu bekommen. »Geht es langsam an, teilt euch eure Kraft ein. Der lange Weg beträgt fünf Kilometer, der andere nur drei. Der Leistungsgruppe traue ich genug Eigenmotivation zu, um alleine zu laufen.«

Die Leistungsgruppe bestand aus Cara, Flynn, Liam, mir und noch vier anderen. Liam bewegte sich eigentlich so wenig wie möglich im Sportunterricht, allerdings musste er früher jede Medaille bei den Bundesjugendspielen gewonnen haben. Jedenfalls ließ Frau Vogt keine Gelegenheit aus, zu versuchen, ihn zu motivieren, was bisher allerdings noch keine großen Früchte getragen hatte. 

»Also dann, alle an den Start und loslaufen!«, rief Frau Vogt. Flynn und ich bildeten schnell die Spitze der acht Leute. Ich genoss die frische Waldluft und das Plätschern des nahen Baches. Doch schon bald spürte ich erste Erschöpfung und mein Atem rasselte seltsam. Scheinbar hatte ich mich noch nicht ganz von der letzten Nacht erholt. Vermutlich wäre jeder halbwegs normale Mensch nach solch einem Vorfall mindestens einen Tag zuhause geblieben. 

Aber was machte ich? Genau - ich ging joggen. 

Liam holte schnell zu uns auf. Er wirkte nicht im Geringsten angestrengt. Die beiden Jungs hängten mich ab und ich blieb einige Meter hinter ihnen zurück. So wie ich das beurteilte, würde Liam gewinnen, der schon jetzt die Führung übernahm. Seine Schritte waren schnell und rhythmisch. Ich sah die beiden als Motivation, mich selbst anzutreiben und meine Grenzen auszutesten und das, obwohl meine Lunge bereits angeschlagen war.

Es gelang mir ein wenig aufzuholen, doch etwas stimmte nicht.

Liams Schritte wirkten nicht mehr rhythmisch, eher hastig. Ohne Vorwarnung fing er an zu rennen. Flynn gab einen verblüfften Laut von sich und ich – Gott weiß warum – konzentrierte meine Kraft und sprintete hinterher. Der Junge war unglaublich schnell, ich sah ihn kaum noch. Meine Beine fühlten sich bereits schwer an und die Luft in meinen Lungen brannte. Ein Hustenanfall zwang mich dazu anzuhalten und keuchend zu Atem zu kommen.

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt