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Als ich die Sirene des Krankenwagens in der Ferne hörte, stand ich auf, um den Notärzten entgegen zu kommen und sie hierher zu führen. Doch auf einmal fühlte sich jeder Schritt an wie Blei. Meine Beine zitterten und als ich versuchte, loszujoggen, gaben sie einfach nach und ich landete im Sand. 

Die Sanitäter kamen mir auf halben Weg entgegen und ich danke Gott dafür, dass meine flüchtige Wegbeschreibung die drei Männer nicht ins Nirgendwo geschickt hatte. 

»Was ist passiert?«, fragte mich der Notarzt. Ein Mann, mit Pferdeschwanz. Auf seinem Namensschild stand ›Dr. Flint‹. 

»Sie ist einfach umgekippt und hat angefangen zu krampfen«, sagte ich mit zitternder Stimme. 

Wie erreichten die bewusstlose Lydia. Nachdem Dr. Flint sie in aller Eile untersucht hatte, luden die Sanitäter sie auf eine Liege und trugen sie zügig Richtung Krankenwagen. 

Ich kam kaum hinterher. Meine Muskeln zogen sich bei der kleinsten Anstrengung schmerzlich zusammen. 

»Hast du die Nummer ihrer Eltern?«, fragte mich der Notarzt. 

Benommen schüttelte ich den Kopf. »Nein ... ich ... ich weiß nur, dass sie Lydia heißt.«

»Kennst du ihren Nachnamen?«

»Nein. Kann, kann ich mitfahren?«

Der Notarzt schüttelte den Kopf. »Du solltest jetzt besser nach Hause gehen und morgen im örtlichen Krankenhaus nachfragen.« Ich nickte. Irgendwo im Hintergrund fragte ich mich, warum die Sanitäter mich nicht nach meinen Eltern fragten, aber die Männer hatten gerade wirklich andere Sorgen, als ein minderjähriges Mädchen, das nachts im Schlafanzug umherwanderte. 

Ich trat einige Schritte zurück und sah dabei zu, wie der Krankenwagen mit lautem Geheul davonfuhr. Ohne darauf zu achten, wo ich mich genau befand, sackte ich auf den Asphalt und starrte auf meine Hände. 

Was war gerade passiert? Woher wusste Lydia von der Insel? Woher wusste sie von den Drachen? Und was hatte sie mir sagen wollen? 

Du musst auf die Insel zurück. Du musst das Drachenherz holen. Nur du kannst das. Nur du kannst den Fluch brechen. Es ist dir bestimmt.

Was war dieses Drachenherz? Ich dachte an meinen Traum und an den Stein in Makans Brust – sein Herz. Ein Drachenherz. Konnte es sein, dass Lydia dieselben Träume hatte wie ich? Und von welchem Fluch hatte sie gesprochen? Verdammt. Ich kämpfte mich mühsam auf die Beine und irrte durch die Straße, dann über den Strand. 

Ich spürte die Insel in meinem Rücken, als würde sie mich anstarren. 

»Habt ihr ihr das angetan?«, richtete ich meine Frage voller Wut auf die vielen Stimmen, die zu mir sprachen und die mich in meinen Träumen verfolgten. 

»Die rote Frau ... «, flüsterte es leise in mir, doch ich wusste nicht, ob das Meer zu mir sprach, oder nur eine leise, dunkle Erinnerung. 

»Die Insel ist gefährlich«, hatte Liam gesagt. Was, wenn sie auch hier noch gefährlich werden konnte? Was, wenn sie für Lydias Anfall verantwortlich gewesen war? 

Leise lachend schüttelte ich den Kopf. Wie konnte denn bitte eine Insel für das alles verantwortlich sein, oder eine Frau, die nur in meinem Kopf existierte?

Ich musste mit Lydia reden. Sobald es ihr wieder besserging, musste ich mit ihr sprechen. 

Ein Faden aus Schmerz legte sich um mein Herz. Was auch immer geschah, es verletzte die Menschen um mich herum. 

Es tötete Liam. 

Ich blieb stehen und starrte dem Horizont entgegen. Doch ich sah die Insel nicht. Nur im Osten erhob sich langsam ein Streifen Grau. 

Völlig erschöpft schleppte ich mich nach Hause. Meine Mum war noch nicht wach und so schlich ich mich in mein Zimmer, schloss ab und ließ mich in mein Bett fallen. 

Doch der Schlaf blieb aus.

Zu viel war passiert. Zu viel, was ich mir nicht erklären konnte. Sorge fraß sich durch meinen Körper wie Säure und ich glaubte mich aufzulösen. 

Ich griff an meine Brust, tastete die Haut bis zu meinem Hals entlang und suchte verzweifelt nach der Kette. 

»Warum bist du nicht hier?«, schluchzte ich und krümmte mich zusammen. »Warum bist du nicht hier, Dad? Warum bist du einfach gestorben und hast mich und Mum alleingelassen?« Wut mischte sich unter die Sorge. »Hättest du dir nicht denken können, dass wird ich brauchen?« Ich drückte mein Gesicht feste ins Kissen und schrie. Ich schrie und schrie und schrie, bis ich keine Stimme mehr hatte.

Jemand rüttelte an der Tür. »Yara?!«

Meine Mum, sie musste mich, trotzt des Kissens, gehört haben. »Yara, bist du in Ordnung? Mach die Tür auf!«

»Alles bestens«, flüstere ich heiser, rollte mich aus dem Bett und wankte zur Tür. Meine Beine brannten, als würden sie in Flammen stehen. Es fühlte sich an wie ein schlimmer Muskelkater hoch fünf. 

Ich schloss auf und ließ meine Mum herein. Sie trug noch ihren Morgenmantel und sah mich stirnrunzelnd an. 

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte sie. 

Ich zog die Schultern hoch, weil ich nicht wusste, was sie meinte. 

»Du siehst aus, als hättest du heute Nacht kein Auge zu gemacht und dein Schlafanzug ist schmutzig.«

Ich schwieg, weil mir gerade keine passende Antwort einfallen wollte. 

Meine Mum seufzte und ging sich durch die Locken. 

»Ich mache mir Sorgen um dich. Du hast eben noch geschrien und ... « Mit zitternden Händen rieb sie sich über die Augen. »Herrgott, Yara, so kann das nicht weitergehen!« Sie rüttelte an meinen Schultern. »Was denkst du dir eigentlich?! Muss ich in Zukunft die Tür von innen zuschließen und den Schlüssel verstecken?«

Ich schaute sie an. In mir breitete sich Leere aus. Eine tiefe, schweigsame Leere. Und genauso ausdruckslos musste ich sie ansehen. 

»Mach, was du nicht lassen kannst«, sagte ich, drängte mich an ihr vorbei und wankte die Treppe hinab. 

»Wohin willst du?!«, rief mir meine Mutter hinterher. »Ich rede mit dir!«

»Duschen«, erwiderte ich und zog mich ins Badezimmer zurück. 

»Was ist nur in dich gefahren?!«, hörte ich meine Mutter. »Ich erkenne dich überhaupt nicht mehr wieder!«

»Ja, ich mich auch nicht«, murmelte ich trocken. 

Als ich in den Spiegel sah und meinem blassen, ausdruckslosen Gesicht entgegen starrte, hätte ich das Glas am liebsten zertrümmert. 

Ich hockte mich, samt Schlafanzug, unter die Dusche und ließ das warme Wasser über mich strömen.

Wie sollte ich meiner Mutter mein Verhalten erklären? Wie sollte ich ihr sagen, dass mich ihre Strafen gerade nicht interessierten, weil es viel Wichtigeres gab, um das ich mir Sorgen machen musste?

»Mum«, flüsterte ich in das Brausen der Dusche hinein. »Ich höre Stimmen, dir mir etwas mitteilen wollen, aber ich weiß nicht was. Eine Frau, deren Gesicht ich nie richtig erkennen kann, verfolgt mich in meinen Träumen. Es gibt eine Insel, die nur Liam und ich sehen können und von der eine Bedrohung ausgeht, die ich einfach nicht greifen kann. Lydia ist verrückt geworden und liegt jetzt im Krankenhaus. Ach ja, und ich habe Liam geküsst. Mehrmals. Liam hustet Blut und leidet an Fieberschüben. Hab ich noch was vergessen? Oh ja, das Wichtigste: Liam kann sich in einen Drachen verwandeln. Ich lass mich dann schon mal in die Psychiatrie einweisen, in Ordnung, Mama?«

Ich legte mein Kinn auf die Knie und schlang meine Arme um die Beine. Würde mein Leben je wieder normal aussehen? Würden diese ganzen Fragen in meinem Kopf je wieder zur Ruhe kommen? 

Was sollte ich jetzt machen? 

Was ... ? 

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt