~• Kapitel 7.1 •~

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Während des Abendmahls sagt Emma keinen Ton. Still löffelt sie den Eintopf, der dampfend vor ihr steht.
Wie durch eine Decke abgedämpft nimmt sie die Stimmen und das Lachen um sich herum wahr.
Sie ist nicht ganz hier. Ihr Körper, der am gleichen Tisch wie Lorna und Ben sitzt, schon, aber ihr Geist, der gerade das Gespräch mit Lukas Revue passieren lässt, nicht.

Sie weiß nicht wie sie zu der Situation stehen soll. Gedanklich fasst sie sie zusammen: "Es gibt Werwölfe, die größer als normale Wölfe sind und ein menschliches Bewusstsein besitzen. Einige fressen Menschen und auch dieses Rudel, bei dem ich nun seit geraumer Zeit lebe, hat das mal getan. Doch sie trennten sich von ihrem alten Rudel, um das nicht mehr zutun. Ich kann nicht in mein altes Dorf zurück. Vermutlich würde ich nicht mal den Weg finden und mich in der Wildnis verlaufen. Mit den Bewohnern dort, von den ich nun weiß, wäre das Wahnsinn. Und Alex? Was ist mit Alex? Ob es ihm gut geht? Ich kann ihn nicht suchen. Wüsste gar nicht wo ich suchen soll. Ob er ohne mich gegangen ist, als ihm auffiel, dass ich in eine andere Richtung lief, als er?"

Emma stöhnt laut, rauft sich durch die Haare und lässt ihren Kopf neben den Eintopf sinken.
Eines ist ihr klar geworden, allein kommt sie nicht weiter. Sie kann nicht einfach im Wald spazieren gehen und Alex suchen. Es gibt so viele Faktoren, die ihre Suche nicht nur unmöglich machen, sondern auch noch gefährlich.

Plötzlich blickt sie auf, geradewegs in die verdutzten Gesichter von Ben und Lorna.
"Alles in Ordnung?", fragt Ben und kratzt sich am Hinterkopf.
Emma antwortet ihm nicht, denn ihr kam gerade ein ganz neuer Gedanke.
Hätte sie Hilfe, könnte sie suchen.
Es wäre nicht so gefährlich, weil sie nicht allein wäre und sie wäre auch deutlich schneller, wenn sie auf dem Rücken...
Emma schüttelt den Kopf und versucht zumindest diese Idee wieder zu verwerfen.

"Emma? Geht es dir gut?", fragt nun auch Lorna, nachdem Emma Bens Frage unbeantwortet ließ.

Sie braucht Hilfe, um zu suchen, doch sie steht keinem von ihnen nahe genug, um diese Hilfe zu erbitten.
Erneut stöhnt Emma.
"Das ist doch zum Verrückt werden", denkt sie sich.

Plötzlich wedelt eine Hand vor ihrem Gesicht.
Erschrocken blickt sie auf und sieht Ben mit fragenden Blick neben ihr stehen.
"Was, was?", fragt Emma, deren Geist so langsam wieder im Hier und Jetzt ankommt.
"Du warst ganz weit weg", stellt Ben fest und lässt sich neben sie auf die Bank fallen. "Alles in Ordnung?"
Er sieht sie von der Seite an.
Emma nickt und pustet eine Strähne aus ihrem Gesicht.
"Verzeih, ich war in Gedanken."
"War ziemlich unbefriedigend, was?"
"Ja", antwortet Emma und blickt auf ihre Schüssel herab. Ihr Eintopf ist mittlerweile erkaltet.
"Ein wenig."
"Emma, ich weiß, dass das momentan alles viel für dich ist", mischt sich Lorna vom anderen Ende des Tisches ein, "Aber du kannst mit uns reden. Auch, wenn du anders bist als wir, für mich bist du Teil dieses Dorfes und Teil meiner Familie. Wir achten aufeinander, verstehst du?"
Emma nickt. Nein, sie versteht nicht, denn dieses Gefühl von Wärme und Sicherheit ist neu, doch sie genießt es.
Niemals hatte sie damit gerechnet, dass sie hier dieses Gefühl finden würde.
Als sie damals mit Ben mitging, dachte sie, sie würde in diesem Dorf auf Alex warten, darauf, dass er sie findet. Doch nun, auch mit ihrem neuen Wissen, merkt sie, dass sie es sich immer noch vorstellen kann hier zu leben... mit Alex.

"Ich danke dir", murmelt Emma und räuspert sich.
Lorna macht eine wegwerfende Handbewegung, bevor sie auf ihrer Bank näher an Emma heranrutscht. Über den Tisch hinweg sieht sie sie an.
"Also was beschäftigt dich so?"
Emma überlegt, doch dann entscheidet sie sich zu einem Funken Ehrlichkeit.

"Ich habe vorhin mit Lukas gesprochen", beginnt Emma langsam, während Lorna wartend nickt und auch Ben sieht sie geduldig wartend an.
"Er hat mir erzählt, dass ihr...", sie stockt, "Dass ihr mal... Men- schen... Fleisch gegessen... habt."
Puh, sie hat es geschafft.
Lorna nickt, wartet.
"Und ich weiß nicht, wie ich dazu stehen soll", beendet Emma ihre Erzählung.
Lorna nickt erneut und atmet ein. Sie stößt sich von der Tischplatte ab und setzt sich gerade hin.
"Ich verstehe, dass das für dich schwer zu verdauen ist", sagt Lorna ernst, "Aber ich möchte dir eine andere Perspektive zeigen. Vielleicht kannst du ja danach besser entscheiden wie du dazu stehst."
Emma nickt, "In Ordnung", sagt sie unnötigerweise, in dem Wissen, dass Lorna ihr diese andere Sicht auch ohne ihre Zustimmung gegeben hätte.

When the snow falls Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt