~• Kapitel 9.2 •~

1K 62 4
                                    

Wartend steht Emma auf einer Lichtung, deren feine, dünne Schneedecke fast unberührt ist. Nur die Tapsen einer Vögelchen, die hier nach Nahrung gesucht zu haben scheinen, lassen die Oberfläche gleich weniger glatt aussehen und natürlich Lukas schwere Pfoten, die einen ordentlichen Abdruck hinterlassen haben.

Emma blickt sich um. Was auch immer in ihrer Nähe war, nun scheint es weg zu sein. Sonst hätte Lukas sie nicht hier alleine gelassen.

Ein Knacken sorgt dafür, dass sie ihren Kopf dreht. In menschlicher Gestalt steht er zwischen zwei Büschen, die so aussehen, als wollten sie mit ihren Zweigen nach seinen Beinen greifen. Langsam läuft er auf sie zu, während er ein Leinenshirt anzieht.

Emma kommt nicht umhin verstohlen seinen Oberkörper zu betrachten. Noch nie sah sie den unbekleideten Oberkörper eines Mannes und was auch immer es ist, irgendetwas fasziniert sie daran.

"Alles in Ordnung?", reißt Lukas Stimme sie aus ihrer Trance. Sie zuckt zusammen, hält kurz inne, blickt dann langsam empor und als sie sein Grinsen sieht, spürt sie wie die Röte ihren Hals empor kriecht.
Ruckartig wendet sie den Blick ab und sieht gen Boden.
"Warum...", sie räuspert sich, "Warum auch nicht?", krächzt sie und rügt sich innerlich für ihren Tonfall.

Warum kann sie nicht mit fester Stimme antworten?

"Du hast gerade so abwesend gewirkt", erwidert Lukas, der um sie herum läuft und sich vor sie stellt. Langsam beugt er sich zu ihr hinab. Emma blickt fast krampfhaft zu Boden, während sie aus dem Augenwinkel wahrnimmt, dass sein Gesicht dem ihren immer näher kommt.
Ihr Herz setzt kurz aus, nur um dann schneller weiter zu schlagen.
Sie unterdrückt ihren Fluchtinstinkt und bleibt stocksteif stehen.

Als sein Gesicht wenige Zentimeter von ihrem entfernt ist und sie bereits seinen heißen Atem an ihrer Wange spüren kann, fragt er plötzlich: "Können wir weiter?"

Als hätte sich die Zeit gedehnt, schnellt sie mit dieser Frage wieder zurück und Emma landet mit einem Knall in der Wirklichkeit.

Sie blickt auf, blickt direkt in sein Gesicht und entfernt sich einige Meter von ihm.
Dieser betrachtet ihre Flucht mit einem amüsierten Grinsen und stellt sich wieder aufrecht hin.
"Wir müssen übrigens da entlang", sagt er, als sei nichts gewesen und zeigt an Emma vorbei in den Wald hinein.

"In Ordnung", krächzt Emma, deren Herz noch immer stark in ihrer Brust pocht.

~•~

"Woher kommt eigentlich die Kleidung?", fragt Emma nach einiger Zeit, in der sie still nebeneinander her liefen:
Emma in ihren eigenen Gedanken versunken und Lukas laut pfeifend, als befände er sich auf einem Spaziergang.

"Du wirst lachen", stellt er daraufhin fest und fängt daraufhin an zu grinsen.
"Wirklich?", fragt Emma und sieht ihn aus neugierigen Augen an.
"Tom verwandelte sich mal zurück, nicht wissend, dass er von einer alten Frau, die Beeren sammelte, beobachtet wurde. Die Arme hat bereits bei dem Anblick des Wolfes einen Herzinfarkt bekommen, aber als dann auch noch der unbekleidetete Tom vor ihr stand ist die Arme endgültig in Ohnmacht gefallen."
Emma kann irgendwie nicht darüber lachen, gerade weil sie die Alte verstehen kann. Das zu sehen wäre auch für sie ein großer Schock gewesen und wenn sie nicht vor Schreck umgefallen wäre, dann vor Scham.

"Ich dachte, ihr könntet so gut hören. Wie konnte Tom denn nicht mitbekommen, dass er beobachtet wird?"
"Sagen wir mal so, dass Tom da recht speziell ist", antwortet Lukas langsam und kratzt sich am Kopf, "Wie ein junger Welpe, der die Welt gerade erst entdeckt, ist Tom manchmal auch ein wenig abgelenkt."
"Also ist er unaufmerksam?", bringt es Emma auf den Punkt.
"Das trifft es recht gut", stimmt Lukas lächelnd zu und nickt.

"Und wo hast du nun die Kleidung her?", kommt Emma zu ihrer ursprünglichen Frage zurück.
"Verzeih, da bin ich nun vom Thema angekommen", entschuldigt sich Lukas, "Nach diesem Vorfall hat Tom überall in unserem Territorium Kleidung versteckt. Falls wir uns mal verwandeln müssten, wenn Menschen in der Nähe sind. Wir wollen nämlich unentdeckt vor ihren Augen leben."

Emma stöhnt innerlich laut auf. Kaum hat er ihr eine Frage beantwortet, stellt sich ihr schon die nächste.

"Was ist ein Territorium?", fragt sie deswegen nach.
"Land", antwortet Lukas stumpf.
"Land?"
"Kennst du den Ausdruck nicht?"
Emma schüttelt den Kopf und kann das Gefühl nicht unterdrücken, dass sie gefühlt nichts von der Welt weiß. Aber wie auch? Sie verbrachte ihr Leben in einem Dorf, dass zwar in dieser Welt existiert, aber nicht wirklich Teil dieser ist.

Lukas, der ihre Gedanken erahnt zu haben scheint, setzt ein entschuldigendes Lächeln auf und antwortet mit sanfter Stimme: "Das ist ein bestimmtes Stück Land, das einem Wolfsrudel gehört."
"Oh", entkommt Emma, "Also ist dieses Land hier euer Territorium?"
Lukas nickt.
"Und sind die alle gleich groß?"
"Du meinst gerecht verteilt?", fragt Lukas lächelnd nach, "Nein, ganz sicher nicht."

Fragend sieht Emma ihn an.
"Manchmal entsteht Streit, weil Grenzen nicht akzeptiert werden oder ein Rudel will sich und sein Territorium vergrößern, dann kam es schon zum Krieg zwischen verschiedenen Rudeln. Das siegreiche Rudel nimmt dann das Territorium des anderen Rudels ein und je nachdem, manchmal dürfen sich die Mitglieder des alten Rudel dem neuem anschließen oder sie werden verbannt und müssen sich irgendwo ein neues Territorium suchen."

"Das hört sich schrecklich an", gesteht Emma und beißt auf ihrer Unterlippe herum.
"Krieg ist immer schrecklich. Manchmal kann er jedoch gutes bezwecken. Einen tyrannischen Anführer stürzen oder einfach Schutz. Ein großes Rudel ist meist immer sicherer vor Angriffen als ein kleines, aber das Große hat auch Nachteile. Gerade was Nahrung betrifft", erklärt Lukas.

Emma nickt, denkt über Gesagtes nach. Es hört sich für sie fast weise an, was er äußert.

"Und dein Rudel, habt ihr schon mal Krieg geführt?", fragt Emma vorsichtig.
Lukas schüttelt den Kopf, "Nicht wirklich, ich habe mit den Anführern aus den Territorien um uns herum eine Art Friedensvertrag geschossen. Die meisten von denen sind sehr alt, sodass sie den letzten großen Krieg miterlebten und ihnen deswegen nicht mehr der Sinn nach Blut vergießen steht. Es gibt immer große Verluste, auf beiden Seiten."

Emmas Augen werden groß. Lukas, der diesen Blick scheinbar mittlerweile gut einschätzen kann, winkt ab.
"Die Geschichte erzähle ich dir ein andermal. Wir sind nämlich da", sagt er und zeigt auf die alte Hütte, die trotz eingestürzten Dach, noch immer tapfer hält.

Emma kann es kaum glauben, dass sie sie nochmal wieder sieht. Sie bot ihr kurzzeitig ein Zuhause, Schutz vor Regen und Kälte.

Die eingestürzte Hütte. Ihre eingestürzte Hütte.

- Fortsetzung folgt -

When the snow falls Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt