Der Rote Schein der Abendsonne lässt die Umgebung so wirken, als sei sie in Blut getränkt. Lange Schatten kahler, aber dennoch majestätischer Bäume werden auf den Boden geworfen und je weiter die Sonne sich hinter dem Horizont verbirgt, desto länger werden sie. Als streckten sie ihre Hände nach Emma aus, die gerade aus der Höhle gezerrt und zu Boden gestoßen wird.
Mit zitternden Beinen kniet Emma auf dem nassen, kalten Laub des Waldbodens, das vom geschmolzenen Schnee offen gelegt wurde.
Sie sieht sich um und erblickt die beiden Männer und Friedrich im Halbkreis um sie herum stehen, hinter ihr Alex und der Junge.
Zitternd hockt sie sich auf den Boden und gräbt ihre Finger tiefer in den Untergrund."Emma, schön, dass du zu uns gefunden hast", begrüßt Friedrich sie.
Einer der Männer, die neben Friedrich stehen, starrt sie förmlich an. Sein Blick ist ihr so unangenehm, dass sie ihm nicht lange standhalten kann.
Sie sieht zu Friedrich, den Blick des Mannes noch immer auf sich spürend. Ein Schauder läuft ihren Rücken hinab, als sie sich mit Mühe aufrichtet.Egal was nun geschehen wird, sie weiß, dass sie nicht wie ein verschrecktes Kaninchen in der Falle hocken wird.
Emma atmet tief ein und blickt Friedrich geradewegs in die Augen.
"Mutig ist sie ja", hört sie eine tiefe Stimme murmeln, "Sowie sie aussieht, hatte ich das gar nicht von ihr erwartet."
Emma blickt zu dem Sprecher.
Ein älterer Mann, der das Alter ihres Vaters haben dürfte, beugt sich zu dem, der sie zuvor anstarrte.
Als hätte der Sprecher ihren Blick bemerkt, sieht er sie an und nickt ihr zu.
"Das finde ich gut. Du bist ein gutes Mädchen", lobt er sie und Emma kommt nicht umhin ihn fragend anzusehen.
Er nickt, "Ja, das ist wirklich gut. So ist es spannender."
Er beugt sich wieder zu seinem Nebenmann, "Weißt du noch", sagt er leise, doch Emma hört ihn trotzdem, so als wollte er genau dies, "Die Rothaarige, von der dachten wir, sie besäße Temperament. Gab sich so, am Ende die größte Enttäuschung."
Der Nebenmann lacht leise und nickt zustimmend, "So viel Geheule. Kaum auszuhalten.""Emma", nennt Friedrich ihren Namen und zieht ihre Aufmerksamkeit von den Männern weg.
Sie sieht ihn an, verdrängt all jenes was sie fühlt ist die letzte Ecke ihres Seins und blendet Alex aus und geht auf Friedrich einen Schritt zu und sammelt ihren ganzen Mut zusammen, den sie finden kann."Wer seid ihr?", stellt sie die Frage, die sie die ganze Zeit auf den Lippen umher trug und die bisher unbeantwortet blieb.
"Wir?", erwidert Friedrich und blickt zu den Männern, die erneut beginnen zu lachen, "Warum fragst du nicht Alex? Er beantwortet dir die Frage gern. Nicht?"
Friedrich wirft seinem Bruder einen fordernden Blick zu.
Emma dreht sich um und sieht Alex an, der bisher stumm neben dem Schwarzhaarigen stand.
"Alex?", fragt Emma und kann nicht verhindern, dass eine Bitte sich in ihren Tonfall schleicht, "Wer seid ihr?""Lasst uns einfach beginnen!", ruft Alex stattdessen über ihren Kopf hinweg und als Emma sich umdreht, sieht sie Friedrich den Kopf schütteln.
"Sie soll es erfahren", antwortet er, "Denn sie ist anders, als alle zuvor. Wegen dir, also trag die Verantwortung, mein lieber Bruder."
Friedrichs Stimme klingt sanft, doch die unausgesprochene Drohung ist selbst für Emma nicht zu überhören.Alex fährt sich durch die Haare, während er seufzt.
Emma kann sich dem Eindruck nicht erwehren, dass Alex hin und her gerissen scheint.
Doch genauso schnell wie sie diesen bekam, verschwindet er auch wieder, denn Alex sieht Emma geradewegs an."Wir sind eine Familie", beginnt er zu sprechen, "Wir sind Ausgestoßene, die zu einander fanden."
Er blickt zu Friedrich, doch der schüttelt erneut den Kopf.
Alex seufzt, "Wir sind eine Gemeinschaft, ein Halt in einer unsicheren Welt und..."
Alex stockt.
"Mein Gott!", ruft plötzlich der Schwarzhaarige, "Wir sind deine Prüfung. Die Prüfung, das sind wir, jeder, wirklich jeder einzelne von uns."Emma sieht den Schwarzhaarigen unbeeindruckt an.
"Ich weiß", sagt sie und versucht ihre Stimme dabei fest klingen zu lassen. Sie verschränkt die Arme vor der Brust, in der Hoffnung, dass sie so ihr Zittern nicht wahrnehmen, dass ihren Körper immer stärker befällt, während ihre innere Stimme ihr Anweisungen zuflüstert.
Anweisungen, die ihr einst ihr Vater gab."Triffst du auf Raubtiere", sagte er einst, "Stell dich tot, mach dich klein, lass sie vorbeigehen oder geh langsam zurück und lass sie dabei nicht aus den Augen. Es gibt aber auch welche, bei denen solltest du Größe beweisen. Lass dir deine Angst nicht anmerken, sei stark. Es gibt welche, die vergreifen sich nicht an starken Mädchen."
Als kleines Mädchen verstand sie seine Worte nicht, sagte ihm, dass sie immer ein starkes Mädchen sei.
Heute weiß sie, dass ihr Vater bei letzterem keine Tiere gemeint hat.Es wird ihr immer klarer, je länger sie diese Kerle betrachtet, deren ganzes Verhalten darauf abzielt ihr Angst zu machen.
Deswegen sprachen sie Kala an, die letzten Winter erwählt wurde und die die Einzige in ihrem Dorf war, die feuerrote Haare besaß.
Es wird für sie immer deutlicher wie viel diese Männer wissen, ohne jemals ihr Dorf betreten zu haben. Alles Dank Alex, der zwei Leben lebt.
Ihr ist zwar noch nicht ganz klar, wie der Älteste in dieses ganze Spiel mit rein passt, doch sie ist sich sicher, dass er involviert ist.
Immerhin führte er all die Mädchen zum Waldrand und somit zu diesen Männern."Du weißt es?", fragt der Schwarzhaarige überrascht und fasst sich an die Stirn. An Alex gerichtet, sagt er: "Sie weiß es."
"Ich bin nicht dumm, all die beiläufigen Anmerkungen", erwidert sie und dreht sich, sieht jedem der Männer in die Augen, bis sie bei Friedrichs Augen hängen bleibt."Was habt ihr mit all den Mädchen gemacht?", fragt sie und spürt in ihrem Bauch ein schweres Gefühl.
Friedrich belächelt Emma und geht auf sie zu.
"Du meinst es herausgefunden zu haben", sagt er, als er vor ihr stehen bleibt, "Du hast nichts herausgefunden, nur das, was wir dir gaben."
Emma ballt die Hände zu Fäusten, während sie den Drang unterdrückt wegzusehen.
"Deine Prüfung wird es sein, den Fluss zu erreichen."
Er zeigt an ihrem Kopf vorbei, vorbei an Alex und vorbei an der Höhle."Wenn du immer geradeaus läufst, erreichst du ihn."
Emmas Blick folgt dem Fingerzeig und schweift danach empor gen Himmel.
Friedrich, der ihren Blick verfolgt, nickt.
"Du hast Recht, es wird bald dunkel. Du solltest also schnell laufen."
"Warum lasst ihr mich gehen?", fragt Emma. Sie hatte mit allem gerechnet, nur damit nicht."Weil es so am meisten Spaß macht dich zu jagen", antwortet er und wirft sich plötzlich auf die Knie.
Ein Bild entsteht vor Emmas Augen, das sie an Erik erinnert und an eine Welt, die lange vor ihren Augen verborgen blieb, dabei war sie ihr so nah.
Sie war nicht von ihr abgeschirmt, wie sie dachte. Sie lebte schon immer mitten in ihr.- Fortsetzung folgt -
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When the snow falls
ParanormalFernab der Zivilisation, versteckt in einem tiefen, endlosen Wald liegt ein kleines Dorf. Jedes Jahr, sobald der erste Schnee fällt, wird ein Mädchen erwählt, die zu sein, die diesem Ruhm und Reichtum einbringen soll. Dafür muss es das Dorf verlasse...