~• Kapitel 9.3 •~

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Sie ist noch da. Emma hoffte es so sehr, doch da hängt sie mit verblichener Schrift und vom Schnee durchnässt.
Ihre Notiz...

Alex war nie hier gewesen, hatte nie ihre Hütte oder die Notiz gesehen.
Emma ist nach Stöhnen zumute. Sie hoffte so sehr, dass Alex hier sei oder zumindest ihre Notiz nicht mehr da.
Doch weder die eine noch die andere Hoffnung hat sich verwirklicht.

Alles sieht genauso aus, als sie die Hütte verließ, außer, dass hier keine weiße Schneedecke mehr liegt, sondern Schneematsch, der die Hütte umgibt, als wäre sie eine Insel im dunklen Meer.

"Und?", fragt Lukas, der sie alleine zur Hütte gehen lassen hat und nun in einigem Abstand steht. Wartend sieht er sie an, beobachtet sie, ihre Körperhaltung und ihren Gesichtsausdruck.
Sie schüttelt den Kopf, als könne allein dies ihm erklären was sie überhaupt hier wollte.

"Nicht fündig geworden?", fragt er und sie schüttelt erneut den Kopf, blickt wieder zu der Notiz und dann auf ihre Hände, wie ihre Finger sich in einander verschränken.
"Was suchst du überhaupt?", fragt er und geht auf sie zu.
Sie blickt ruckartig auf, öffnet den Mund und Stille folgt. Kein Ton entkommt ihren Lippen.
Sie schließt ihn wieder, nestelt an dem Fell ihres Mantels, um dann wieder empor zu blicken.

"Ich...", sie stockt, "Ich... suche..."
Sie beißt sich auf die Unterlippe und wendet den Blick ab.
Schlecht kann sie ihm sagen wen sie sucht.
"Weißt du, ich finde wir sollten ein Feuer machen, uns stärken und dann gehen wir dahin, wo auch immer du noch hin willst", sagt er und blickt sich um, bevor er sich wieder zu ihr umdreht, "Hört sich das gut an?"
Emma nickt langsam, "Das hört sich sehr gut an", antwortet sie und lächelt leicht.

~•~

Das Holz beginnt zu glühen. Immer mehr, je stärker Lukas pustet.
Er lässt sich zurückfallen, wischt die Hände an seinem Ärmel ab und wendet sich dem Hasen zu, den er innerhalb weniger Zeit fing.

Emma erstaunt es noch immer, wie er oder auch Ben auf die Jagd gehen und vorallem, dass es funktioniert.

Eine kleine Flamme kriecht über einen der Stöcker, wird dabei immer größer und verschlingt das Holz auf ihrem Weg. Eine zweite gesellt sich hinzu und gemeinsam tänzeln sie über die Stöcker.

Emma hält ihre Hände ans Feuer und spürt die Wärme, wie sie ihre tauben Handflächen wieder Gefühl schenkt.

"Also", beginnt Lukas nach einiger Zeit das Gespräch, "Wo möchtest du danach hin?"
Emma beobachtet wie dem Hasen das Fell über den Kopf zieht, wendet ihren Blick dem Feuer zu und überlegt.

Und überlegt...

Bisher hatte sie niemanden erzählt woher sie kam, wie ihr Leben zuvor aussah, doch sie hatten ihr soviel erzählt, hatten ihr eine neue Welt gezeigt, die wahre Welt und haben dabei selbst ihre dunkelsten Erinnerungen geteilt.
Je länger Emma darüber nachdenkt, desto mehr fällt sie auf, dass sie nie so offen war.

"Ich habe euch, dir, nie erzählt woher ich komme", stellt sie nach einiger Zeit fest und blickt weiterhin ins Feuer.
"Und ich habe auch nie danach gefragt", gibt Lukas zu.
Emma blickt auf, "Du hast es fragen wollen?", fragt sie überrascht.
Ihr war es nicht in den Sinn gekommen, dass Lukas überhaupt daran gedacht hatte.

"Überrascht? Glaubst du wirklich, dass sich dies keiner fragte und glaubte du seist einfach aus dem Nichts aufgetaucht? Als hättest du zuvor kein Leben gelebt?" Lukas schüttelt belustigt den Kopf, "Wir wollten dich nicht bedrängen, dachten, du würdest es schon erzählen, wenn du soweit bist."

"Ich bin nicht soweit", gesteht Emma und wendet ihren Blick vom Feuer ab. Blickt Lukas direkt in seine Augen, lässt ihren Blick an seinen markanten Wangenknochen hinabschweifen und bleibt an seinen Lippen hängen.
"Ich bin nicht soweit", wiederholt sie, "Aber ich erzähle es dir trotzdem."
"Warum?", fragt er in einem undefinierbaren Ton nach.
"Weil", Emma beißt auf ihre Unterlippe, atmet tief ein und sprudelt förmlich los: "Weil du es verdient hast!"
Lukas sieht sie lange an und antwortet dann: "In Ordnung, erzähl es mir."

Emma atmet tief ein.
"Ich...", sie stockt, überlegt, wo sie beginnen soll.
"Ich stamme aus einem Dorf, nicht all zu weit von hier", fängt sie an langsam an, während sie an ihrem Ärmel nestelt.
"Ich sah nie etwas anderes als das Dorf. Uns ist es verboten es zu verlassen. Ich..."
"Warum hast du es verlassen", unterbricht Lukas ihre Erzählung.

Emma blickt von ihrem Ärmel hoch.
"Dafür muss ich weiter ausholen und bitte", Emma sieht ihn direkt an, "... unterbrich mich nicht. Ich weiß sonst nicht, ob ich es schaffe weiter zu erzählen."
Verständnis blitzt in Lukas Augen auf. Er nickt stumm.

"Nur bestimmte Mädchen dürfen das Dorf verlassen. Ich war eines von ihnen. Unser Dorfältester, er, er versteckt die Welt vor uns. Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand von der Welt außerhalb des Dorfes weiß. Es existiert schon sehr lange und die Familien, die dort leben, leben seit Generationen in dem Dorf."
Emma pausiert, sieht Lukas an, ob er noch zuhört.
Wartend erwidert er ihren Blick.

"Ich weiß nicht wie das Dorf entstand. Darüber sprach der Älteste nie. Er sagte nur immer wieder, dass das Dorf eine sichere Stätte sei, die vor den Gefahren der Welt schütze. In ihr leben grausame, böse Menschen und wir könnten uns glücklich schätzen diesen Ort zu haben. Nur... war ich nie glücklich. Das Leben war hart, voller Arbeit, tagein tagaus. Voller Erwartungen und Regeln und wenn man sich diesen nicht beugte, dann wurde man bestraft."

Emma hält inne. Atmet und versucht ihre Erinnerungen nieder zu kämpfen.
"Alles in Ordnung? Wenn es dir zu schwer fällt, dann musst du ni..."
"Nein", unterbricht Emma und schüttelt den Kopf, "Nein, ich, schaffe das."

Sie holt tief Luft, "Manchmal, da verschwanden Menschen aus unserer Mitte. Einfach so, als habe es sie nie gegeben. Es wurde dann auch nicht mehr über sie gesprochen. Sie waren einfach weg. Der Vater von Gerda, mit ihr wusch ich immer Kleidung am Bach. Er hat sich manchmal entgegen der Worte des Ältesten geäußert. Eines Tages war er weg und Gerda sprach seitdem nicht mehr mit mir, mit niemandem mehr. Ich sah sie auch kaum noch."

Emma unterdrückt ein Schluchzen. Gerda war wie eine Freundin für sie, auch wenn sie mit ihr nur am Bach Zeit verbrachte.

Ohne auf Lukas mitfühlenden Blick zu achten, erzählt Emma weiter.
"Im vorletzten Winter wurde sie dann auserwählt und danach sah ich sie nie wieder. Sie ka..."

"Verzeih, wenn ich unterbreche, aber was meinst du mit auserwählt?", fragt Lukas verwirrt.
"Oh", entkommt Emma. Sie hatte ihm das Wichtigste noch gar nicht erzählt.

"Jedes Jahr sobald der erste Schnee fällt wird ein Mädchen auserwählt. Sie ist die, die sich einer Prüfung außerhalb des Dorfes stellen soll. Wenn sie diese besteht, würde sie dem Dorf Ruhm und Reichtum einbringen."
Skeptisch sieht Lukas sie an, "Und was ist das für eine Prüfung?"

Emma zuckt mit den Schultern. "Ich weiß nicht. Der Dorfälteste forderte immer Vertrauen und sagte, dass keiner von der Prüfung erfahren dürfe, der nicht erwählt wurde. Das sei Gottes Wille."
"Und es werden nur Mädchen auserwählt?"
Emma nickt.
"Und du bist dieses Jahr erwählt worden?"
Emma nickt erneut.
"Hast du an der Prüfung teilgenommen?", fragt Lukas ernst.
Sie schüttelt den Kopf, "Ich lief vorher weg."
"Warum?", fragt er ganz direkt.
"Weil... weil...", Emma atmet tief ein und schließt die Augen, "Weil Alex mich darum bat."

Lukas sieht sie lange an, bevor er tonlos fragt: "Wer ist Alex?"

Emmas Herzschlag verdoppelt sich, als sie antwortet: "Alex ist der Mensch, der mein Leben im Dorf erträglich, sogar schön machte und er ist der", sie hält inne und holt tief Luft.
"Er ist der, den wir suchen."

- Fortsetzung folgt -

When the snow falls Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt