~• Kapitel 6.3 •~

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Sie weiß nicht, wie lange sie schon mit offenen Augen dem Hüttendach entgegen blickt. Vor einiger Zeit, es könnte ein Moment sein oder aber ein halber Tag, erwachte sie aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Orientierungslos betrachtete sie ihr Umfeld und brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass sie in Lornas Hütte auf ihrem Schlafplatz liegt.
Die Arm hat man ihr verbunden und dem Geruch nach zu urteilen hatte man ihr genau das Kraut mit auf die Wunde gegeben, für das sie einen Alptraum durchlitt.
Das Hin und Her ihrer Gedanken ist schon lange verstummte, nachdem sie erst geglaubt hatte, dass alles einem bösen Traum geschuldet war.

Mittlerweile ist Emma aufgestanden und folgt den leisen flüsternden Stimmen die Treppe hinab. Sie kann nicht mehr liegen, da sie so beginnt an der Realität, von allem was ihr Leben ausmacht, zu zweifeln.
Kaum betritt sie die erste Stufe, verstummt das Flüstern und es herrscht eine Stille, die zum Zerreißen gespannt ist. Zumindest kommt es Emma so vor, als sie die Treppe hinabsteigt, um sich dem zu stellen, das sie mit ihrem eigenen Augen sah.

Im Wohnraum der Hütte angekommen, steigt Emma der würzige Kräutergeruch in die Nase, der sich mittlerweile fast wie Heimat anfühlt.
Dort stehen sie versammelt und blicken ihr wartend entgegen. So als wüssten sie, dass Emma sich entschied herunter zu kommen.

Emma sieht ein jeden von ihnen an und irgendwie kann sie es nicht glauben, dass nicht normale Menschen vor ihr stehen. Tom kratzt sich nachdenklich am Hinterkopf, während Lorna und Ben Emmas Blick suchen und Lukas, der lehnt an der Wand und sieht sie einfach nur an.
Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen und trotz dessen, erklingt ihre Stimme zittrig und leise.
"Ihr seid anders", stellt sie einfach fest und spürt wie ihr Herz in ihrer Brust beginnt zu flattern. Wie ein kleiner Kolibri, der versucht seinem Käfig zu entkommen.
"Kommt drauf an aus welcher Perspektive", antwortet Lorna langsam, "Aber aus deiner mag das zutreffen."
Emma atmet zitternd aus und greift haltsuchend nach dem Türrahmen.
Die Bestätigung zuhören ist etwas anderes, als es nur gesehen zu haben. Da hatte sie sich einreden können, dass ihre Augen ihr einen Streich spielen.
"Was seid ihr?", bringt Emma mühevoll heraus.

Lukas stößt sich von der Wand ab und geht auf Emma zurück.
Diese weicht unwillkürlich einen Schritt zurück und steht nun mit dem Rücken an der Wand.
Einige Schritte vor ihr bleibt er stehen und blickt auf sie herab.
"Du hast Recht, wir sind nicht wie du und du bist nicht wie wir."
Emma nickt zögerlich.
"Aber nun wo du das weißt, lass mich dich fragen, ob du zuvor jemals Angst gegenüber uns verspürtest?"
Langsam schüttelt Emma den Kopf.
"Dann hast du auch mit deinem neuem Wissen keinen Grund Angst zu verspüren", sagt Lukas und tritt von ihr weg, "Wir tun dir nichts."
"Was seid ihr?", fragt Emma erneut und löst sich von der Wand.
"Wir sind Menschen, die in ihrem Körper eine Wolfsseele beheimaten und wir sind Wölfe, die in ihren Körpern ein menschliches Bewusstsein besitzen", antwortet Lorna und lächelt Emma aufmunternd an.
"Also seid ihr sowohl Mensch als Wolf?", fragt Emma und geht noch einen Schritt näher auf sie zu.
Sie kann sich nicht dagegen wehren, die Neugierde zieht sie an, sowie Motten vom Licht angezogen werden.

Tom lässt sich auf einen der Hocker fallen, "Richtig", antwortet er verschmitzt.
"Und ihr könnt euch verwandeln?"
Tom nickt und grinst.
Ungläubig blickt Emma von einem von anderem.
Zum ersten Mal merkt sie, dass die Welt ganz anders ist, als sie es sich vorstellte.
"Ob der Dorfälteste weiß, dass es solche Menschen gibt?", fragt sich Emma unwillkürlich, "Hatte er deswegen verboten das Dorf zu verlassen? War das die Gefahr, von der er sprach? Doch nie erwähnte er solche Wesen in seinem Erzählungen. Immer waren es Menschen, böse Menschen, die Leben zerstörten."

"Worüber denkst du nach?", fragt Ben sanft.
Emma schüttelt den Kopf und setzt sich zu Tom.
"Sind alle hier Wölfe?", fragt Emma und blickt aus dem Fenster.
Tom schnappt sich ein Stück Brot vom Tisch und nickt, während er es sich in den Mund schiebt. "Naja, ab- geschehen vohn dir", schmatzt er.
Fragend sieht sich Emma um.
"Aber warum? Warum bin ich hier?", fragt sie verwirrt.
"Das geschah auf meinen Wunsch", antwortet Lukas.
Emma dreht sich zu ihm und sieht ihn mit großen Augen an.
"Warum solltest du das wollen? Wir kennen einander nicht."
"Bevor du mein Dorf betreten hast, hatten wir eine Begegnung."
Emma grübelt und überlegt und während sie das tut, blickt sie Lukas an.
Plötzlich fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Seine Augen, sie kennt sie. Ihr Mund formt sich zu einem O.
"Richtig, das war ich", bestätigt Lukas, dem ihre Mimik nicht entgangen zu sein scheint.
"Du warst der Wolf. Da bei der Hütte. Du... Du hast mich angegriffen."
Emma steht langsam auf.
"Tatsächlich ja", antwortet Lukas, als Lorna ihm einen merkwürdigen Blick zuwirft.
"Ich dachte, sie hätte Finn verletzt", erklärt er mehr an Lorna gerichtet.
"Finn?", echot Emma.
Lukas dreht sich wieder zu ihr, "Der Welpe? Erinnerst du dich?"
"Der Welpe ist Finn?", fragt Emma langsam nach und hat das Gefühl, als könne sie die ganzen Informationen nicht verarbeiten.
"Ich dachte du wärst für seine Verletzung verantwortlich. Deswegen griff ich dich an, doch dann hat Finn mir erklärt, dass du ihm geholfen hast. Deswegen bat ich auch Ben dich hierher zu bringen. Als Wiedergutmachung dafür."
"Finn hat es dir erklärt...", wiederholt Emma langsam.
"Wir können miteinander kommunizieren, während wir verwandelt sind", ergänzt Tom.
"Irrsinnig wie wenig ich weiß", murmelt Emma und fasst sich an den Kopf.
"Ich glaube das reicht jetzt", unterbricht Lorna, bevor jemand auch nur ansetzen kann etwas zu erwidern.
"Seht sie euch an. Das kann keiner innerhalb kurzer Zeit verarbeiten."
Tatsächlich spricht Lorna damit aus Emmas Seele, denn sie hat das Gefühl, als würde ihr der Kopf platzen.
"Nun gut, zumindest weiß sie es nun", murmelt Lukas und verlässt ohne ein weiteres Wort die Hütte.
"Sehr gut, ich muss mich nicht mehr verstellen", jubelt Tom förmlich und verlässt winkend die Hütte.
Zurück bleiben Ben, Lorna und Emma.
Ratlos sieht Emma zu Lorna.
"Und wie nennt man euch nun?", fragt Emma.
Lorna lächelt, "Lupus, doch die Menschen, die von uns wissen nennen uns Werwolf."

~• Fortsetzung folgt •~








When the snow falls Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt