~• Kapitel 14.1 •~

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Emma starrt mit geweiteten Augen an die Stelle, an der eben noch Friedrich stand. Nun steht
dort ein großer, dunkelbrauner Wolf, der den Kopf nach hinten wirft und ein lautes, durch Mark und Bein gehendes, Heulen ausstößt.

Der Wolf ist ein wenig größer als Lukas. Nicht viel, aber doch ein wenig. Er neigt seinen imposanten Kopf und blickt Emma geradewegs an.
Sie steht stocksteif da, lässt ihn nicht aus den Augen, bis einer der Männer vortritt.
"Dein Vorsprung ist die Zeit, in der wir uns alle verwandeln", weist er sie an und fügt mit einem breiten Grinsen hinzu, "Also nutze sie."

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, wirbelt Emma herum und läuft in die Richtung, die ihr Friedrich zeigte.
Sie kommt an Alex vorbei und es ist nur ein kurzer Augenblick, als ihre Blicke sich treffen und sie in die grünen Augen eines Wolfes sieht. Ihr wird klar, dass Friedrich und Alex Recht hatten, sie wusste nichts. Gar nichts.

Doch Emma bleibt keine Zeit darüber nachzudenken. Sie bricht förmlich durchs Unterholz, bevor sie mit schnellen, gehetzten Schritten tiefer in den Wald hineinläuft.

Ein roter, schattenhafter Teppich erstreckt sich vor ihr, über den sie blindlings läuft.
Ihr Herz rast in ihrer Brust, als sie das Tempo noch anzieht.
Hinter sich ein neues Heulen hörend und wissend, dass es nicht mehr lange dauert bis fünf Werwölfe sie jagen.
Sie hat keine Chance.
Sie muss ihren Vorsprung nutzen, muss sie soweit wie möglich hinter sich lassen.

Ein Tag, der alles verändert.
Morgens noch in ihrer sicheren Hütte und nun auf einem Lauf, von dem ihr Leben abhängt.

Schweiß läuft ihre Stirn hinab, als sie mit den Händen mehr schlecht, als recht die Zweige versucht fortzudrücken, dennoch spürt sie an ihrer nackten Haut, wie sie wie Peitschen auf sie niederschlagen.

Das Heulen hinter ihr ertönt mehrstimmig und plötzlich hallen dumpfe Pfotenschläge durch den Wald.
"Nein", denkt Emma, während ihr Herz vor Angst zu explodieren droht, "Nein!"
Sie jault auf, als sie noch schneller wird und allmählich ein Ziehen in ihrem Fuß spürt, das mit jedem Schritt stärker wird.
"Nein, nicht jetzt", fleht Emma gedanklich, während sie laut keuchend einen Blick über die Schulter wirft und wie zu Erwarten nichts sieht.

Das hatte sie gelernt. Man sieht sie erst, wenn sie es wollen und dann ist es zuspät.

Krachend läuft Emma erneut durchs Unterholz. Erschrocken blickt sie wieder nach vorne und sieht sich eine Lichtung betreten, die still und friedlich daliegt.
Emma durchläuft sie. Sie hat gerade die Hälfte hinter sich gelassen, als plötzlich mit einem Knall ein Wolf aus dem Unterholz bricht.
Erschrocken aufschreiend kommt sie schlitternd zum Stehen, wendet sich ab und läuft nach rechts.
Als hätte sie es geahnt, tritt dort nun auch ein Wolf hervor. Langsamer, als der andere, bewegt er sich elegant aus dem Unterholz. Er ist größer, als der erste und Emma muss nicht überlegen, um zu wissen, dass dort Friedrich steht.

Emma rammt ihre Fersen in den dunklen Matsch.
Auf einer Stelle stehend, sieht sie sich um, doch jedes Mal, wenn ihre Augen einen Fluchtweg ausmachen und sie schon loslaufen will, tritt an dieser Stelle ein Wolf aus dem Unterholz.

Der letzte, der ihr den Weg abschneidet, ist ein staatlicher, hellbrauner Wolf, der es vermeidet ihr in die Augen zu sehen.
Flehentlich sieht sie ihn an.
"Alex, tu das nicht", ruft sie bittend. Doch er reagiert nicht auf ihre Worte.
Stattdessen reiht er sich zu den anderen ein, die beginnen sie zu umkreisen.

Emma dreht ihren Kopf mit. Betrachtet sie, wie sie sie alle mit ihren Wolfsaugen anstarren. Kurren entkommt ihren Mäulern und jedes einzelne jagt ihr einen Schauer über den Rücken.

Die Wölfe ziehen die Kreise immer enger und Emna hat das Gefühl, als könne sie nicht mehr Atmen. Immer näher kommen ihr die muskulösen und riesigen Wolfskörper.

"Bitte nicht", fleht sie und spürt wie sich Tränen in ihren Augen sammeln. Ihr Atem entkommt hektisch ihrem Mund.

Ein Wolf macht einen Ausfallschritt und schnappt plötzlich nach ihrem Bein. Kreischend stolpert Emma zurück und wirbelt herum, als der hinter ihr nach der Luft schnappt.
Er sieht sie aus lodernden Augen an, in denen eine derartige Mordgier steht, dass Emma schlecht wird.
Er schnappt nach ihr, Emma taumelt zurück. Ein anderer schnappt nach ihr, sie taumelt erneut zurück. Mitten in dem Spiel hält Emma inne, bewegt sich kein Stück mehr.

Sie fasst sich an den Kopf, rauft sich ihre langen Haare, kneift die Augen zu und schreit.
Schreit alles heraus, während ihre Beine nachgeben und ihre Knie auf dem Boden aufkommen.

Sie schreit weiter, aus tiefster Kehle. Schreit, um die Schnappgeräusche und das Knurren zu übertönen. Schließt die Augen, um nicht mehr sehen zu müssen.
Schreit bis sie heiser ist und lässt ihren Schrei dann langsam abebben.
Sie hustet. Lauscht.

Stille umgibt sie. Friedliche Stille, die nur durch ihren schweren Atem unterbrochen wird.
Ganz langsam öffnet sie die Augen und erblickt Dunkelheit.

Ihr Herz setzt aus, als ihr klar wird woher die Dunkelheit stammt.
Die Wölfe haben sie eingeschlossen. Dass was sie sieht sind ihre Körper, die dicht an ihr sitzen, ohne sie zu berühren.
Langsam blickt Emma empor und sieht die vier Köpfe der mordhungrigen Bestien, die sie eingeschlossen haben und sie nun anstarren. Rasiermesserscharfe Zähne blitzen in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf. Gleich wird sie, umgeben von ihnen, in der Dunkelheit sitzen.

Emma lässt den Blick wieder sinken und schreit erneut, auch wenn ihrem Hals nur ein heiseres Quitschen entkommt.

Sie senkt den Kopf, sodass ihre Stirn den kühlen Matsch berührt und wartet das Unausweichliche ab, während stumme Schluchzer ihrem Mund entkommen.

Sie will nicht sterben.
Sie will leben und erleben, all das was das Leben für sie bereit halten könnte.

- Fortsetzung folgt -


When the snow falls Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt