~• Kapitel 4.1 •~

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Sie weiß nicht wie lange sie in der Dunkelheit hockten und den Schreien über ihnen lauschten.
Es hätten Minuten oder Stunden sein können, doch irgendwann kehrt Stille ein.

"Ist es vorbei?", flüstert Emma in die Dunkelheit.
"Warte noch", antwortet ihr Finn prompt.
Sie wartet, ohne zu wissen worauf sie warten soll.
Hört auf die Worte des Jungen, der sie hierher brachte. Ohne ihn wäre sie vermutlich draußen rum spaziert, während der Kampf losbricht und vermutlich auch in ihn involviert worden.
Gar nicht gut, wenn man bedenkt, dass Emma weder kampferprobt ist noch Erfahrungen im Kämpfen hat.
Sie musste es nie.
Ihre einzigen Kämpfe bestanden darin mit bloßen Händen Fische zu fangen, wenn die Angelschnur unauffindbar war und sie dennoch diese Aufgabe von ihrer Mutter zugeteilt bekommen hat.

Ein Knarren reißt Emma aus ihren Gedanken. Die Bodenklappe öffnet sich und das Licht, das hineinfällt quälen Emmas Augen, die zuvor nichts als Schwärze sahen.
Ihre Augen abschirmend, blinzelt sie immer wieder, bis die Stiche nachlassen.

"Hier habt ihr euch also versteckt", erklingt eine bekannte Stimme.
Emma lässt die Hand sinken und erblickt Ben, wie er über ihnen hockt und die Klappe aufhält.
Seine Haare sind verstrubbelt, sein Gesicht dunkel vor Dreck und an seiner Unterlippe klebt Blut.
Er lächelt sie an, doch das Lächeln erreicht seine Augen nicht. Müde blickt er auf sie herab.

"Bist du verletzt?", fragt Emma und erhebt sich langsam.
"Ach", erwidert Ben und macht eine wegwerfende Handbewegung, "Halb so schlimm."
Er hält ihr die Hand hin und zieht sie mit Schwung aus dem Loch.
"Geht es euch gut?", fragt er, nachdem er Finn hinaufhilft.
"Besser als dir", antwortet der Junge und lässt seinen Blick über das zerrissene Leinenhemd schweifen.
Ben ignoriert seine Worte und antwortet nur: "Das ist gut."

Als die Drei aus der Hütte hinaustreten offenbart sich ein Bild der Verwüstung.
Emma reißt die Augen auf, als sie das Chaos betrachtet und ihr Mund formt sich zu einem O.

Glasscherben glitzern auf dem Boden, Fensterrahmen hängen gen Boden, Türen wurden eingetreten, Holzteile liegen verstreut überall wohin das Auge blickt. Der Boden sieht aus, als hätte man ihn mit einem Pflug aufgelockert. Überall liegt Schutt und das Schlimmste, das Emmas Augen sehen, ist das Blut, das diese Verwüstung schmückt.

"Wer ist verletzt?", haucht sie.
"Nicht viele, keiner lebensbedrohlich", antwortet Ben ernst, "Hier ein Kratzer, da nen Kratzer."
Emma sieht in fassungslos an.
"Du willst mir sagen, dass bei dieser Verwüstung keiner von euch ernsthaft verletzt ist? Habt ihr Haut aus Stein?"
Ben zuckt die Schultern und sieht sie entschuldigend an.
"Sind sie weg?", fragt Finn, der neben Emma steht.
"Ja geflohen, das feige Pack", antwortet Ben grimmig und fängt sich so erneut einen fassungslosen Blick von Emma ein.
"Sie konnten noch fliehen?"
"Ja leider", erwidert Ben zerknirscht.
"Habt ihr gemeinsam euer Dorf zerstört? Wer am schnellsten etwas zerstört?"
"Was redest du da?", fragt Finn und sieht sie skeptisch an.
"Na, aber, diese Verwüstung und keiner, niemand, keiner scheint verletzt, tot zu sein. Wie... kann das sein?", stammelt Emma hilflos und fasst sich an den Kopf.
"Das Umfeld sieht immer schlimmer aus, als der Kampf eigentlich war. Sie haben scheinbar Essen gesucht, denn als wir sie entdeckten waren sie gerade dabei Hütten zu plündern.
Wir haben sie aufgehalten, konnten aber nicht verhindern, dass sie entkommen. Das siehst du hier", erklärt Ben.
"Das... sehe ich... hier", wiederholt Emma langsam und auch wenn es sich plausibel anhört, dass die größte Verwüstung beim Plündern entstand, so kann ein Teil von Emma es dennoch nicht glauben. Sie weiß nur nicht, was sie stattdessen glauben soll.

~•~

Die Tage sind ins Land gezogen.
Nach dem Angriff hatte man mit vereinten Kräften das Dorf aufgeräumt.
Emma verlor bewusst keinen Gedanken mehr daran und ging ihrem Tagewerk nach.
Kräuter sammeln und mit Lorna diese zu Arzneien verarbeiten, mit Finn spielen und das Dorf erkunden und jeden Tag ein wenig mehr die Hoffnung verlieren, dass Alex hier ankommt.

"Was hast du?", fragt Lorna, als Emma gerade einen Sud aus getrockneter Kamille für ein Mädchen herstellt, das über Magenschmerzen klagte.
"Ich weiß nicht wie es weitergehen soll", antwortet Emma ehrlich, während sie die Kamille schneidet.
"Was meinst du?", fragt Lorna nach, während sie die heute gesammelten Kräuter zu vielen kleinen Bunden zusammen bindet.
"Ich... Ach ist nicht wichtig", unterbricht sich Emma selbst und lässt die Kamille in einen Krug rieseln.
"Wenn es dich beschäftigt, so muss es wichtig sein", widerspricht Lorna ohne den Blick zu heben.
"Weißt du, als Ben mich fand, da habe ich auf jemanden gewartet. Ich hinterließ eine Notiz an der Hütte, aber wie du sicherlich bemerkt hast ist niemand neues hier hergekommen."
Lorna unterbricht ihre Arbeit und blickt Emma einen langen Moment an.
"Vielleicht hat der- oder diejenige sich verlaufen. Der Wald ist groß und dicht; es ist leicht die Orientierung zu verlieren", gibt Lorna zu bedenken und spricht damit das aus, was Emma hofft.
Doch glauben kann sie es nicht. Denn egal wie sie sich dagegen wehrt, der Gedanke, dass Alex ihr zur Flucht verhalf und dabei selbst auf der Strecke blieb, wird immer lauter.
Sie ist hier und er nicht, und anstatt all ihre Möglichkeiten auszuschöpfen ist sie einfach nur hier.
"So kann es nicht weitergehen", denkt sie sich und fasst einen Entschluss, der sie alles kosten könnte, doch sie braucht einfach Gewissheit.
Die Zeit des Wartens ist vorbei.

~• Fortsetzung folgt •~

When the snow falls Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt