"Komm herein, komm herein", sagt Ben's Mutter und zieht Emma ins Innere der Hütte, "Das muss unangenehm gewesen sein, aber mach dir nichts draus. Man sieht hier nicht häufig ein neues Gesicht."
Emma nickt wortlos und sieht sich um.
Sie steht in einem Raum, an dessen hinteren Wand eine Feuerstelle ist.
Mit einer Art Wand, die Emma vermutlich nur bis zum Knie geht, trennt sie das Feuer vom restlichen Raum.
Neugierig lässt sie ihren Blick weiter schweifen.
In der Mitte steht ein langer Tisch mit fünf Stühlen, doch es sieht nicht so aus, als würde an ihm gegessen werden. Kleine und große Gefäße stehen auf ihm, dazwischen liegen getrocknete Kräuter und Messer in verschiedenen Ausführungen.
An der Decke hängen noch mehr getrocknete Pflanzen. Auf den ersten Blick erkennt Emma Löwenzahn, Bärlauch und Spitzwegerich.
An der Wand neben ihr ziehen sich Regale vom Boden bis zur Decke und in ihnen stehen weitere Gefäße mit unterschiedlichen Flüssigkeiten."Ben hat dir erzählt, dass ich mich mit Heilkunst beschäftige", fragt die Frau und folgt Emmas Blick.
"Ja, das hatte er", antwortet Emma, die ihre Stimme wiedergefunden hat.
"Mir hatte man erzählt, dass du dich damit auch auskennst."
"Ein wenig. Sicherlich nicht in dem Ausmaß wie Ihr", erwidert Emma, deren Blick nach wie vor an dem Regal klebt.
Sie hatten auch eine Heilerin in ihrem Dorf, doch die war nicht so gut ausgestattet wie es hier der Fall ist. Was vermutlich auch daran lag, dass sie in ihrer Suche eingeschränkt war und das Dorf nicht verlassen durfte. So musste sie sich mit den Pflänzchen zufrieden geben, die sie im Dorf oder am Waldrand fand.
Emma wird schwer ums Herz, wenn sie an Hanne denkt, die Frau, bei der sie Stunden zubrachte und von der sie das wenige Wissen über Pflanzen erlernte."Ach sei nicht so förmlich", unterbricht Ben's Mutter Emmas gedankliche Reise in die Vergangenheit, "Oh je, ich habe mich dir ja auch noch gar nicht vorgestellt. Wen wundert's?"
Ein helles Lachen erklingt.
"Mein Name ist Lorna und es ist mir eine Freude deine Bekanntschaft zu machen, Emma", stellt sich Lorna grinsend vor.
"Die Freude ist auf meiner Seite", antwortet Emma ehrlich und empfindet dies genauso.
"Was hältst du davon, wenn du eine Weile ruhst und ich dir währenddessen etwas wärmeres zum Anziehen besorge?"
"Ich finde, dass das eine großartige Idee ist", antwortet Emma und sie spürt wie sie nach und nach ihre Scheu verliert.
Kein Wunder bei einer so herzlichen Frau."Na dann komm, ich zeige dir wo du dich ausruhen kannst."
Lächend geht Lorna einen schmalen Flur hinab und Emma folgt ihr.
Im hinteren Teil der Hütte befindet sich eine Treppe, die hinauf in die obere Etage führt.
Oben angekommen steht Emma in einem großen Raum, über ihr direkt das Dach. Lange helle Vorhänge teilen den Raum in mehrere kleine ein.
"Dadurch, dass meine Möglichkeiten begrenzt sind, schlafen hier auch manchmal Verletzte", erklärt Lorna und zeigt direkt neben Treppe, wo Emma zwei leere Schlafplätze vorfindet.
Vorfreude erfüllt Emma, als sie sieht wie diese gebaut wurden.
Sie hatte damals nur eine Decke, mit der sie auf dem Boden schlief.
Doch hier hat man Heu der Länge nach hingelegt und darüber eine Decke ausgebreitet und auf dieser liegt noch eine weitere, mit der man sich zu decken kann.
"Das sieht sehr gemütlich aus", stellt Emma fest.
"Wir müssen auf unser Wohl achten. Immerhin müssen wir unser Dorf bewirtschaften", erklärt Lora lächelnd.
"Hier", sie dreht sich in die entgegen gesetzte Richtung, "Schlafe ich. Dort hinten Ben und dein Platz ist der da hinten", sagt sie und weist auf die linke Ecke ihnen gegenüber.
"Zieh einfach die Vorhänge zu und wenn du etwas brauchst, ruf mich. Ich wecke dich gegen Abend, in Ordnung?", fragt sie wartend.
Emma nickt und gerade als Lorna sich abwenden will, hält sie sie auf.
"Lorna?"
"Hmm?"
"Danke für alles", haucht Emma, die schon wieder diesen Kloß im Hals spürt.
"Bedank dich nicht. Ich mache das gerne. Außerdem hilfst du mir ja auch. Ich weiß jetzt schon, dass wir gut zusammen arbeiten werden."
Lorna zwinkert ihr zu und steigt die Treppe hinab, während
Emma ihr nach blickt, bis ihr Kopf verschwunden ist.
Vielleicht ist es doch aushaltbar an diesem neuen Ort.
Mit Lorna an ihrer Seite vermutlich wesentlich einfacher und mit diesen Gedanken, geht Emma zu ihrem Schlafplatz und zieht den Vorhang zu.~•~
Sie weiß nicht wie lange sie geschlafen hat, doch die Müdigkeit weicht und blinzelnd öffnet sie ihre Augen.
Anstatt direkt aufzustehen, bleibt sie liegen und genießt die Wärme, die sie umgibt."Da bist du ja wieder", hört sie Lorna sagen.
"Verzeih, ich wurde aufgehalten", antwortet ihr eine männliche Stimme und Emma ist sich sicher, dass es Ben ist.
Emma liegt mucksmäuschen- still da und hört dem Gespräch zu.
Nicht, weil sie lauschen will, sondern weil sie Mutter und Sohn ein wenig Zeit für sich schenken will.
"Wie geht's ihr?", fragt Ben.
"Ihr geht's gut. Sie schläft", antwortet Lorna.
Es herrscht Stille.
"Hast du es klären können?", fragt Lorna ernst.
Darauf antwortet Ben nichts.
"Du weißt, dass es eh geschehen wäre", sagt er nach einiger Zeit, "Ich habe nur den Zeitpunkt vorverlegt."
"Das lag nicht in deiner Entscheidungsmacht", erwidert Lorna mit einer Strenge, die Emma überrascht.
Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass diese herzliche Frau überhaupt zu so einem Tonfall in der Lage ist.
"Ich weiß, aber nun ist es wie es ist und ich habe es mit Lukas geklärt", erwidert Ben.
"Hmmhmm", macht Lorna und sagt kurz daraufhin, "Lassen wir das. Ich gehe nun Emma wecken und holst bitte den Mantel aus dem Nebenzimmer."Schnell schließt Emma die Augen und atmet ruhig ein und aus.
Irgendwie fühlt sie sich nun doch ertappt und bereut sich nicht bemerkbar gemacht zu haben."Emma Liebes", erklingt die sanfte Stimme von Lorna und sie spürt ihre Hand an ihrer Schulter, "Wach auf."
Emma stöhnt leise, während ihr schlechtes Gewissen wächst.
"Ich bin wach", murmelt sie und setzt sich blinzelnd auf.
Lorna, die neben ihr kniet, lächelt sie an. "Gut geschlafen?"
"Sehr gut", antwortet Emma und gähnt.
"Steh auf, komm", drängt Lorna sie plötzlich und zieht sie an ihren Händen hoch.
Beeindruckend welche Kraft in dieser kleinen Frau steckt.Als Emma unten ankommt, steht Ben an der Hüttentür und hält ihr einen Mantel aus Fellen hin.
"Oh", entkommt es Emma, als sie diesen sieht und fast andächtig mit ihren Fingern berührt.
"Ist der für mich?", fragt sie und blickt Ben mit großen Augen ins Gesicht.
"Der ist für dich", antwortet Lorna, die gerade die Treppe runter stiefelt und neben Emma zum Stehen kommt, "Gefällt er dir?"
"Er ist wunderschön", haucht Emma.
Lorna schmunzelt, "Danke, den habe ich selbst genäht."
"Und ich habe die Felle gefangen", fügt Ben grinsend hinzu und hält Emma den geöffneten Mantel hin.
Sie schlüpft hinein und fühlt sich, als würde der Mantel sie umarmen. So kann ihr die Kälte wirklich nichts mehr anhaben."Vielen Dank, wirklich. Ich weiß gar nicht wie ich eure Taten wieder gut machen kann", sagt Emma und spürt wie sich Tränen in ihren Augen sammeln.
"Liebes, deswegen musst du doch nicht weinen", sagt Lorna und tupft mit ihrem Ärmel Emmas Tränen weg, "Ich hatte dir doch schon gesagt, dass du mir auch eine Hilfe sein wirst."
Emma nickt langsam und blickt dann Lorna direkt an, "Ich werde dir die beste Hilfe sein", schwört sie und meint es genau so.
Lorna lacht und streicht Emma liebevoll über die Wange.
"Ich danke dir jetzt schon dafür.""Nun gut, genug von Tränen und Gefühlen, ich habe Hunger", unterbricht Ben die Frauen und öffnet die Hüttentür.
"Wie kann man nur so gefräßig sein?", fragt Lorna entrüstet und sieht ihren Sohn streng an. Dieser hebt abwehrend die Hände und tänzelt lachend aus der Hütte.
"Was habe ich da bloß heran gezogen?", meckert Lorna, doch in ihrem Gesicht steht ein dickes Grinsen, das Emma kichern lässt.
"Wo gehen wir eigentlich hin?", fragt sie plötzlich.
"Zum Dorfplatz", antwortet Lorna, die sich gerade auch einen Mantel anzieht, "Dort essen wir immer gemeinsam zu Abend."
Emma geht einen Schritt zurück.
"Keine Sorge. Sie werden mit dir anders umgehen, als zu dem Zeitpunkt, als du hier ankamst. Vertrau mir", fordert Lorna sanft und harkt sich bei Emma ein.
Gemeinsam verlassen die Frauen die Hütte und während in Lornas Gesicht sich ein freudiger Ausdruck abzeichnet, steht in Emmas Gesicht das Unwohlsein geschrieben.~• Fortsetzung folgt •~
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When the snow falls
ParanormalFernab der Zivilisation, versteckt in einem tiefen, endlosen Wald liegt ein kleines Dorf. Jedes Jahr, sobald der erste Schnee fällt, wird ein Mädchen erwählt, die zu sein, die diesem Ruhm und Reichtum einbringen soll. Dafür muss es das Dorf verlasse...