~• Kapitel 9.5 •~

973 63 20
                                    

"Es kann nicht mehr weit sein", sagt Lukas und hält inne. Emma dreht sich nach ihm um, während sie ihn eingehend betrachtet.

Es ist für sie nach wie vor beeindruckend welche körperlichen Fähigkeiten die Wolfsseele auch in menschlicher Gestalt mit sich bringt.

"Und?", fragt sie nach einiger Zeit leise und blickt kurz wieder nach vorne, so als hätte sie Angst, dass der Dorfälteste aus dem Unterholz bricht.

"Ich höre Stimme, eindeutig. Lauter als zuvor. Wir müssen nah dran sein", antwortet er und geht an Emma vorbei.
Langsam folgt sie ihm.

"Dein Dorf liegt in einem neutralen Gebiet", sagt er nach einiger Zeit, als er einige Zweige zurückhält und sie vorbei gehen lässt.
"Neutrales Gebiet?", fragt Emma verwirrt nach, "Ich dachte das Land sei in Territorien von Rudeln eingeteilt."
"So ist es auch, dennoch gibt es Gebiete, auf denen kein Rudel lebt. Deswegen nennt man sie neutral. Nicht, dass sich das noch ändern könnte."
"Was hält ein Rudel davon ab es einfach einzunehmen?"
Lukas überlegt.
"Ein größeres Gebiet ist meist schwieriger zu verteidigen. Mein Gebiet ist nicht all zu groß, mein Rudel nicht allzu klein, dennoch haben wir gut damit zutun unsere Grenzen zu sichern", erklärt Lukas und hält erneut Zweige für Emma zurück.

"Wer bedroht denn eure Grenzen?", fragt Emma und muss daran denken, dass Lukas ihr mal erklärt hatte, dass er mit den umliegenden Rudeln Frieden schloss.
"Ab und an Ausgestoßene. Wie du es selbst erlebt hast, als du mit Finn draußen warst", erwidert Lukas und nickt ihr kurz zu, "Meist treibt der Hunger sie in die Nähe fremder Rudel. Es ist nicht einfach ohne sein Rudel zu überleben. Doch die sind tatsächlich nicht das Problem. Problematisch sind Abtrünnige", Lukas bemerkt Emmas fragenden Blick und bevor sie ihre nächste Frage stellen kann, redet er unbeirrt weiter: "Abtrünnige sind Werwölfe, die ihr Rudel selbst verlassen haben und sich nur noch in ihrer Wolfsform aufhalten. Sie verlieren irgendwann ihr Menschsein, zumindest all das Gute was sie zu einem Menschen machte. Die sind gefährlicher, als Ausgestoßene, denn sie sind fast vollständig zum Wolf geworden und ihre schlechten Eigenschaften, die sie als Mensch hatten, treten verstärkt hervor. Du hast mit Abtrünnigen auch bereits Erfahrung gemacht."

Emma kommt nicht umhin an den kleinen Jungen, der sich arg verletzt hatte, zu denken. Sie denkt an Lorna, die sie in den Wald schickte und an die Wölfe, die so mörderisch und ohne einen Funken Mitgefühl in den Augen, wirkten.

"Das waren Abtrünnige?", fragt Emma. Es schaudert sie.
Lukas nickt, "Wie du siehst ist eine Grenze zu verteidigen gar nicht so einfach und manchmal gelingt es nicht."
Emma versteht und sie versteht nun auch, warum es neutrale Gebiete gibt. Immerhin müssten dann mehr Männer eingesetzt werden, um die Grenzen zu sichern. Bei einem nicht so großen Rudel ist das kaum tragbar, denn es müssten ja auch noch welche im Dorf sein, sollten es Wölfe schaffen die Grenze zu überwinden.

Emma schwirrt der Kopf.

"Warte", sagt Lukas plötzlich leise und zieht Emma an ihrem Ärmel zurück.
Überrascht davon, blickt sie zu ihm hinauf, doch er sagt nichts, sondern blickt einfach nach vorne. Sie folgt seinem Blick und dass was sie sieht, lässt ihr Herz schneller schlagen.

~•~

Geduckt und vom Unterholz versteckt blickt Emma auf die beiden Holzpfähle, die links und rechts neben dem Weg, der sich ins Dorf schlängelt, aufgestellt wurden.

Sie kann es nicht fassen. Kann es nicht glauben und doch wusste sie es tief im Inneren bereits, dass ihr Verschwinden nicht ohne Folgen blieb. Ihr Herz schmerzt in der Brust.

Lukas betrachtet sie von der Seite und beugt sich zu ihr hinab.
"Was ist los?", flüstert er.

Emma schluckt, versucht ihren trockenen Mund zu befeuchten.
"Das, das sind meine, meine Eltern", antwortet sie mit belegter Stimme und blickt zu den Pfählen.

Schlimm sehen sie aus. Sie sind dünner, als jemals zuvor. Ihre Kleidung ist an einigen Stellen zerrissen und trieft vor Dreck.
Ihre Hände hat man über ihren Köpfen an den Pfahl gebunden, so hoch, dass sie auf ihren Zehenspitzen tänzeln müssten.
Doch sie tun es nicht. Sie hängen in ihrer Fesslung und bewegen sich nicht.
Emma sieht zu Lukas, fasst seinen Arm, krallt sich fest.

"Leben sie noch?", fragt sie panisch und sieht ihm fast bittend ins Gesicht. Langsam nickt er. "Sie atmen."
Emma fällt ein kleiner Stein vom Herzen.
"Wir müssen sie retten! Wir müssen..."
Plötzlich schiebt sich Lukas Hand vor ihren Mund, mahnend sieht er sie an und nickt nach vorne.
Emma folgt seinem Blick, seine Hand noch immer vor ihrem Mund.

Anna, die ründliche Frau, die sie herrichten sollte, läuft auf ihre Mutter zu. In der einen Hand einen Eimer und in der anderen eine Schöpfkelle.
Den Eimer stellt sie nun auf den Boden und schöpft etwas aus ihm. Wasser, wie Emma vermutet.

Vorsichtig öffnet Anna den Mund der leblos wirkenden Frau und kippt ihr Schluck um Schluck in den Rachen.
Als wären in Emmas Mutter die Lebensgeister wieder erwacht, trinkt sie gierig aus der Kelle.

"Wusste ich doch, dass du noch lebst, Margaret", sagt Anna kühl und schöpft erneut Wasser aus dem Eimer.
Bevor sie ihr die Kelle anbieten kann, dreht Margaret ihren Kopf weg, sodass sich die Kelle von ihrem Mund wieder entfernt.

"Bitte, bitte tut das nicht", fleht sie in einer Tonlage, die Emma noch nie von ihr gehört hat. Es bricht ihr das Herz. Sie ist so nah an ihrer Mutter und doch so weit entfernt.

"Bedank dich bei deiner Tochter", antwortet Anna ungehalten und drängt ihr die Kelle auf.
Mit ihrer fleischigen Hand öffnet sie Margarets Mund und kippt den gesamten Inhalt auf einmal rein. Margaret beginnt zu husten und als Anna von ihr wegtritt, sieht Emma wie sich ihre Mutter nach vorne beugt und das ganze Wasser ausspuckt.

Wut packt Emma, die sich wie Feuer anfühlt und sich in ihrem Körper ausbreitet. Sie will sich gerade aus der Hocke erheben und auf diese Szene zu stürmen, da hindert sie die zweite Hand von Lukas, die nach ihrem Oberarm greift und sie zurück zieht. Er lockert diesen Griff nur, um seinen Arm um ihre Schultern zu legen und sie näher zu sich zu ziehen.
"Bleib hier. Wenn du das jetzt machst, verringerst du die Chance, dass wir sie retten können."
Emma ballt die Hände zu Fäusten, doch sie bleibt an Ort und Stelle.

"Na gut", hört sie Anna sagen, "Da du das gute Wasser nicht zu würdigen weißt, kriegt Josef nun keines." Und mit diesen Worten wendet sich Anna ab. Margaret, die jetzt erst zu begreifen scheint, was das bedeutet, wirft sich in ihre Fesseln.
"Anna! Anna, bleib hier! Es tut mir leid! Bitte, bitte gib ihm was!"
Doch Anna läuft unbeirrt weiter, während Emma ihre Fingernägel in ihre Hautflächen bohrt, nur damit sie nicht aufspringt.

Emma schüttelt Lukas Hand von ihrem Mund und fragt: "Was machen wir?"
Sie blickt zu Lukas empor, als sei er die Lösung aller Probleme.
"Wir warten bis zum Abend", antwortet er und zieht Emma von der Szene weg.

- Fortsetzung folgt -

When the snow falls Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt