~• Kapitel 9.6 •~

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Stille liegt über dem Dorf. Alle Stimmenfetzen, die der Wind im Laufe des Tages zu Emma trug, sind verstummt.
In den Hütten, die den Pfählen am nächsten sind, brennen schwache Lichter, deren Schein die Dunkelheit draußen ein wenig erhellt.

Emma schiebt sich, dicht gefolgt von Lukas, aus dem Unterholz. Ihr Blick schweift dabei durch die Umgebung und bleibt immer mal wieder an den Fenstern der Hütten hängen, doch bisher hat sie niemanden erblicken können, weder draußen noch in den Hütten.

In der Hocke bewegt sie sich näher an die Pfähle heran und wagt es kaum zu atmen, aus Angst, jemand könnte dies hören.
Ihre Mutter hängt wie ein nasser Sack in ihrer Fesslung und Emma bricht es das Herz, doch sie darf sich von diesen Gefühlen nicht hindern lassen. Sie muss bei der Sache bleiben.

Vorsichtig schiebt sie sich weiter vor und als sie ihrer Mutter so nahe ist, dass sie sie berühren könnte, steht sie auf. Lukas schleicht hinter ihr weiter zu ihrem Vater und steht, genauso wie sie, auf, als er ihn erreicht hat.

Versteckt von dem Pfahl, berührt sie vorsichtig die Wange ihrer Mutter.
Schlagartig reißt Margaret die Augen auf und sieht Emma direkt an. Erschrocken zieht Emma ihre Hand zurück und unterdrückt ein Aufkeuchen.

"Emma?", fragt Margaret mit schleppender Stimme.
Emma legt ruckartig den Finger auf ihren Mund und blickt sich um. Sie umfasst das Gesicht ihrer Mutter.
"Ja, Mama, ich bin's. Ich hole euch hier raus. Du musst nur leise sein", flüstert sie, während sie immer wieder zu allen Seiten sieht.
"Du darfst nicht... hier sein. Gefähr...lich. Geh...", bringt Margaret mühsam heraus, aber dieses Mal deutlich leiser.
"Ich gehe nicht ohne dich und jetzt rede nicht mehr", befiehlt Emma leise und zieht an dem Seil.

Sie ist zu klein, um den Knoten lösen zu können und sie hat kein Messer, um es durchzuschneiden.
Hilfesuchend sieht sie sich nach Lukas um, der mit ihrem Vater auf seiner Schulter zu ihr schleicht.
"Wie?", flüstert Emma überrascht.
Lukas schüttelt nur stumm den Kopf und als er bei ihr ankommt, greift er nach dem Seil und zieht ruckartig daran.
Das Geräusch, als würde Stoff zerreißen, erklingt und plötzlich fällt Margaret förmlich in Emmas Arme.
Unvorbereitet darauf, verliert sie unter dem Gewicht ihrer Mutter ihren Stand und hätte Lukas sie nicht an ihrem Rücken nach vorne geschoben, wäre sie samt ihrer Mutter in den Matsch gefallen.

"Kannst du laufen?", flüstert Emma und blickt ihrer Mutter ins Gesicht. Diese sieht sie aus müden Augen an, nickt aber.
Mit Emma als Stütze läuft Margaret langsam und schleppend, doch sie läuft.
Immer näher kommen sie dem Waldrand und dem Unterholz, das Emma und Lukas vor kurzem als Versteck diente.

Plötzlich ertönt ein Läuten, ein lautes Läuten.
Erschrocken wirft Emma einen Blick über ihre Schulter und sieht wie in den zuvor dunklen Hütten Licht brennt.
"Wir müssen uns beeilen!" Emma umgreift ihre Mutter fester und zieht das Tempo an. Sie zieht ihre Mutter, die nicht schnell genug ist, praktisch mit.
Ihre Muskeln schreien unter der Belastung, doch Emma ist nicht bereit aufzugeben.
Lukas folgend laufen sie in den Wald hinein. Wobei Lukas läuft und Emma schleppend nachkommt.

Stimmen werden hinter ihnen laut und ein Blick zurück verrät Emma, dass es sich nur um Sekunden handelt bis die Dorfbewohner sie bemerken. Kleine orangefarbene, hell leuchtende Punkte kommen aus dem Dorf.
"Lukas! Wir müssen schneller werden!", spricht Emma panisch ihre Gedanken aus.
Dieser bleibt kurzerhand vor ihr stehen, dreht sich um und wirft die verdutzte Margaret über seine andere Schulter.

"Wer bist du?", entkommt es Margaret, während sie über seiner Schulter baumelt. Sowohl Emma als auch Lukas ignorieren sie.

"Sucht sie!", hallt plötzlich ein lauter Schrei zu ihnen herüber und Emma muss nicht mal überlegen, um zu wissen, dass es der Älteste ist.
Panisch sieht sie zu Lukas, den sie in der Dunkelheit kaum erkennen kann.
"Los weiter", knurrt er und läuft los. Emma folgt ihm und versucht dabei seinen schemenhaften Rücken nicht aus dem Blick zu verlieren.

Auch, wenn sie es nicht will, wirft sie einen Blick zurück.
Am Waldesrand stehen sie. Vor den Pfählen, an den einst ihre Eltern hingen. Der Älteste ruft laut gestikulierend Befehle, umgeben von einigen Männern. Plötzlich laufen diese auseinander. Einige bewegen sich ins Dorf und andere nähren sich sich dem Wald. Ihre lodernden Fackeln kommen näher, doch sind sie langsam, als wüssten sie nicht wo sie suchen sollen.
Sie hatten sie also noch nicht entdeckt.

Emma blickt wieder nach vorne.
"Kannst du noch?", fragt Lukas über die Schulter. Emma nickt, nicht wissend, ob er es sieht. Die Frage ist müßig. Sie kann nicht mehr, doch sie muss. Sie muss weiterlaufen.

~•~

Laut keuchend lehnt sich Emma an einen Baum und hat das Gefühl ihr Magen wolle sich entleeren.

Sie weiß nicht wie lange sie liefen noch wohin. Sie folgte einfach Lukas Rücken und hoffte bei jedem Schritt inständig nicht zu fallen. Doch Lukas führte sie so, dass mögliche Stolperstellen wie hervorstehende Wurzeln oder Steine umgegangen wurden.
Gedankt sei seinen Augen.

"Sie sind nicht mehr hinter uns", stellt Lukas fest, während er ihre Eltern langsam zu Boden lässt.
"Emma", haucht Margaret, "Wer ist dieser Mann?"

Emma kniet sich neben ihre Mutter und sagt: "Das ist ein Freund. Er hat mir geholfen. Du kannst ihm vertrauen."

"Ich bin gleich wieder bei euch", hört sie Lukas sagen, doch sie blickt nicht mal auf.
"Mama, die Welt ist so anders, als wir dachten und es tut mir leid, dass du es so erfahren musst, aber wir müssen hier weg."
"Emma, Kind, wovon redest du?", erwidert ihre Mutter schleppend und sieht Emma an. Zumindest glaubt Emma das. In der Dunkelheit ist das schwer zu erkennen.

"Vertrau mir und hab keine Angst. Du bist nun in Sicherheit", spricht Emma beruhigend weiter, "Du musst mir gleich helfen, in Ordnung. Du musst Papa hochziehen."
"Hochziehen? Wo hoch?"

Plötzlich erklingen die schweren Schritte von Lukas. Zweige brechen, als er aus dem Gebüsch tritt.
"Wa- a- was ist das?" Margaret keucht, als sie die schemenhafte, durch die Dunkelheit kaum zu erkennende, imposante Gestalt erblickt.
Sie weicht zurück und nur Emmas Griff hindert sie daran sich ihren Kopf an dem Baumstamm hinter ihnen zu stoßen.

"Das ist die Welt, Mama."

~• Fortsetzung folgt •~




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