~• Kapitel 9.1 •~

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Wartend steht Emma dort, wo Lukas sie vor kurzem alleine ließ.
Noch immer starrt sie in die Richtung, in die er verschwunden ist.
Obwohl es heute ein recht kalter Tag ist und Emma nochmal mehr ihren Mantel zu schätzen weiß, kommt sie nicht umhin zu bemerken, dass ihre Hände dennoch schweißnass sind. Nervös lässt sie ihren Blick schweifen und versucht so flach wie möglich zu atmen, um so den nahenden Wolf zu hören.

Etwas in ihrem Augenwinkel erregt ihre Aufmerksamkeit. Sie dreht den Kopf und erblickt in einigem Abstand den riesigen, majestätisch wirkenden Wolf.
Ihr Mund öffnet sich. Sie hatte ihn gar nicht gehört.

Der Wolf sieht sie aus sanften Augen an und scheint zu warten, bis sie sich an seinen Anblick gewöhnt hat.
Emma hatte ihn definitiv nicht so groß in Erinnerung. Er wirkt majestätisch, königlich und trotz seiner Größe bewegt er sich so anmutig.

Emma stockt. "Er bewegt sich?", wiederholt sie in Gedanken. Sie war so gefangen von seinem Anblick, dass sie es nicht direkt bemerkte.

Langsam setzt der Wolf, Lukas, eine Pfote vor die andere. Es wirkt fast so, als würde er bei jedem Schritt überprüfen, ob der Boden sein Gewicht trägt. Langsam kommt er ihr näher, behält sie dabei im Blick und nimmt den ihren gefangen.

Emma weiß nicht, ob es Faszination ist, doch sie kann ihren Blick einfach nicht von ihm abwenden. Ihr Herzschlag verlangsamt sich und auch ihre Atmung wird flacher.
Er kommt ihr näher, bis er direkt vor stehen bleibt.

Er blickt auf sie herab und sie muss den Kopf in den Nacken legen, um ihm in seine Augen zu sehen. Sein heißer Atem streift ihr Gesicht.
Langsam, ohne zu wissen was sie tut, hebt sie ihren Arm. Weiter, höher, bis er ganz ausgestreckt ist und ihre Fingerspitzen die Luft streicheln.
Selbst mit ausgestreckten Arm kann sie ihn nicht berühren.
Er stößt ein leises Grummeln aus und neigt seinen Kopf ihren Fingern entgegen.

Sein Fell fühlt sich verfilzt und rau an, doch je mehr ihre Finger in seinem Pelz verschwinden, desto wärmer und weicher fühlt es sich an.
Emma öffnet den Mund, ohne dass ein Ton herauskommt.
Langsam fährt sie mit ihren Fingern seinen Hals hinauf, was dem Wolf ein wohliges Geräusch entlockt. Er neigt sich ihr noch mehr entgegen.

Plötzlich erstarrt er. Gefriert zu einer Salzsäule. Reißt ruckartig den Kopf empor und blickt an ihr vorbei in den Wald hinein.

Erschrocken folgt Emma seinem Blick, den Arm noch immer ausgestreckt.
"Was ist los?", flüstert Emma, in dem Glauben flüstern zu müssen.
Langsam lässt sie ihren Arm sinken, ohne den Blick von den Bäumen ihrer rechten Seite abzuwenden.

Der Wolf blickt kurz auf Emma herab, nur um den Kopf dann wieder in die Richtung zu erheben und ein tiefes, bedrohliches Knurren auszustoßen. Emma stolpert erschrocken ein paar Schritte zurück.
Blickt vom Wolf zu den Bäumen und wieder zurück.
Irgendwas stimmt hier nicht.
Was hört er, das ihr verborgen bleibt?

Sie spürt wie das Unwohlsein nach ihr greift. Erst nach ihren Beinen, die sich allmählich wackelig anfühlen und dann schleicht es an ihr empor. Greift nach ihrem Magen, der sich anfühlt, als lägen Steine in ihm.

Ein Ruumsen lenkt Emmas Augen von den Bäumen weg.
Der Wolf hat sich hingelegt und sieht so aus, als wolle er mit dem Boden verschmelzen.
Ganz flach liegt er da, was beachtlich bei seiner Größe ist.
Auffordernd sieht er sie an und Emma beginnt zu begreifen, was er von ihr will.

Sie geht langsam an ihn heran, stellt sich an seine Seite und greift zaghaft mit ihrer linken in sein Fell.
Sein Rücken reicht ihr, selbst flach auf dem Boden liegend, immernoch bis zum Gesicht.
Der Wolf brummt ungeduldig, zumindest kommt es Emma so vor, da sie noch immer unbeholfen mit der Hand in seinem Fell neben ihm steht.

Emma versucht ihre Unsicherheit von sich zu schütteln. Die Tatsache, dass er sich so plötzlich auf den Boden legte, lauert irgendwo im Wald und sie schafft es nicht auf den Rücken eines Wolfes zu klettern, dessen Größe zu sehen für sie noch immer mit Unglauben verbunden ist.

Sie schüttelt den Kopf, drückt das Brust raus, schiebt das Kinn vor.
Mir einem beherzten Griff greift sie ins Fell.
Die kleine Stimme, sie sich fragt, ob sie ihm wehtue, ignoriert sie.
Sie klettert auf seinen Rücken, als würde sie einen Berg besteigen. Erst die Hände, dann folgen die Füße.

Oben angekommen setzt sie sich wenig elegant hin und hebt den Kopf.
"Ich habs geschafft", sagt sie und kann kaum glauben, wo sie hier sitzt. Kann kaum glauben, dass sie jemals auf dem Rücken eines Wolfes sitzt. Damit hatte sie damals nicht gerechnet, als sie aus ihrer Heimat floh.

Der Wolf gibt einen zustimmenden Laut von sich und erhebt sich. Aus Emmas Kehle entkommt ein Quicken und sie verstärkt augenblicklich ihren Griff.
Der Wolf blickt über die Schulter zu ihr hinauf.
Es ist ein kurzer Blick, doch für Emma wirkt es fast wie ein Versprechen.

Ich lasse dich nicht fallen.

Sie nickt, nicht wissend, ob sie richtig interpretiert.
Der Wolf geht los, erst langsam und dann immer schneller.
Jedes Mal, wenn er sein Tempo steigert, blickt er kurz zu Emma empor, als wolle er sich versichern, dass es ihr gut geht.

Jedes Mal nickt Emma, sodass sie am Ende in einer Wahnsinns- Geschwindigkeit durch den Wald preschen.
Der Wald ist als solcher nicht mehr zu erkennen. Alles wirkt wie ein Farb- Gemisch aus Grau- und Brauntönen.

Auch wenn sie sich so schnell vorwärts bewegen, hat Emma das Gefühl, dass sie sicher sitzt.
Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Ein Gefühl, das sie verleitet sich zu trauen und so hebt sie erst vorsichtig den einen Arm in die Luft.
Wartet und dann folgt ihr anderer.

Und dann spürt sie etwas, das sie gefühlt noch nie empfunden hat.

Freiheit.

Sie fühlt sich frei, so frei wie ein kleines Kind, das noch nicht weiß, dass es später mit Erwartungen und Regeln konfrontiert wird, denen es sich unterzuordnen hat.

Sie ist das kleine Kind von damals, das die Welt erst kennenlernte.

Die reale Welt, von der sie der Dorfälteste immer fernhielt.

~• Fortsetzung folgt •~

When the snow falls Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt