"Als du sagtest, das Dorf sei nicht weit entfernt, hast du gelogen, oder?", fragt Emma keuchend und stützt sich an einem Baum ab.
Nachdem Emma eine kleine Notiz für Alex hinterlassen hatte, brachen Ben und sie in der Frühe auf.
Mittlerweile steht die Sonne an ihrem höchsten Punkt und würde sich Emma normalerweise über ihr Erscheinen freuen, so hat sie für sie momentan keinen Blick."Bei so kleinen Schritten dauert es auch länger", erwidert Ben und blickt auf Emma hinab.
"Welche Schritte musst du machen, sodass das nicht weit weg ist?", murmelt Emma in einem sarkastischen Tonfall.
"Sagen wir mal so, wir haben unterschiedliche Einschätzungen was Entfernung betrifft", antwortet Ben schulterzuckend und läuft einfach weiter.
"Warte!", ruft Emma und folgt ihm, auch, wenn ihre Beine das gar nicht mehr wollen.
Als sie ihn eingeholt hat und mit ihm auf gleicher Höhe läuft, fragt sie: "Und für dein Dorf ist es in Ordnung, wenn jemand fremdes dazu kommt?"
Ben scheint zu überlegen.
"Ja", antwortet er nach einiger Zeit und fügt lächelnd hinzu: "Wenn dieser Jemand mit einem von uns das Dorf betritt, dann schon."
Emma nickt und denkt an ihre Heimat. Nie kamen Fremde ins Dorf. Der Älteste wollte dies nicht und die Bewohner durften es auch nicht verlassen, außer die Mädchen, die erwählt wurden, die durften es, sollten es sogar.
Diese Dorfgemeinschaften sind allesamt merkwürdig.
Wäre eine offene Gemeinschaft nicht spannender, wenn Fremde kämen und gingen. Ihre Erzählungen würden das Leben sicherlich bereichern."Es ist nicht mehr weit", unterbricht Ben ihre Gedanken.
"Das glaube ich dir jetzt einfach."
Ben lacht. "Es ist wirklich nicht mehr weit."
Er zeigt mit dem Finger in die Richtung, in die sie gerade laufen.
"Siehst wie sich die Bäume lichten?"
Emma blickt in die Richtung und tatsächlich; Ben hat recht.
"Dahinter kommt ein kleiner Abhang, den müssen wir runter. Dann müssen wir nur noch einen Fluss überqueren und kommen in dem Tal an, in dem wir leben."
Emma nickt.
"Wie ist das bei euch?"
Ben sieht sie mit einem Blick an, den sie nicht wirklich zuordnen kann.
"Was meinst du genau?", fragt er nach.
"Wie führt ihr euer Dorf?", erläutert Emma ihre Frage nervös und versucht ihm damit keine Anhaltspunkte auf ihre Herkunft zu geben.
"Ach, das meinst du", antwortet er verstehend, "Jeder bei uns hat seine Aufgaben. Einige gehen jagen, andere bebauen die Acker. Wir haben Leute, die der Heilkunst mächtig sind" Er nickt ihr lächelnd zu, "Und welche die Wache halten. So hat jeder seine Aufgabe."
"Was muss denn bewacht werden?", fragt Emma skeptisch nach.
"Unser Dorf. Es geht nicht darum wer es verlässt. Jeder kann sich bei uns frei bewegen", antwortet er, nachdem ihm ihr Blick nicht entgangen ist, "Ich hatte dir von den üblen Gestalten erzählt. Es soll sie abhalten unser Dorf zu überfallen. Um mehr geht es beim Wachen nicht."
Emma nickt verstehend.
"Und habt ihr auch einen Dorfältesten?", entschlüpft es ihren Lippen, bevor sie es verhindern kann.
Ben sieht sie mit einem undefinierbaren Blick an, bevor er antwortet: "Wir haben durchaus einen Ältesten, sogar mehrere Älteste, die besitzen aber keine Entscheidungsgewalt und stehen, wenn überhaupt, unserem Anführer beratend zur Seite. Sie genießen eher ihren Lebensabend und lassen es sich gut gehen."Das ist Emma neu. Die Älteren müssen nicht arbeiten.
Das Dorf wird ihr allmählich sympathisch. Auch die Älteren, die sich kaum noch bewegen konnten, mussten nach wie vor in ihrem Dorf mit Anpacken."Und wie ist euer Anführer so?"
Ben grinst. "Vermutlich anders, als du dir einen Anführer vorstellst. Er ist noch recht jung. Gerade mal 21 Jahre alt. Aber bei uns ist es Gang und Gebe, dass der Anführer seinem Sohn im Alter des 20. Lebensjahr die Führung übergibt."
"Aber kann ein so junger Mann ein ganzes Dorf führen?", zweifelt Emma.
"Gewiss, er ist ja in diese Stellung hinein geboren worden. So hat er von der Wiege an gelernt zu führen."
Emma nickt langsam, obwohl ihr es noch immer schleierhaft ist.
"Zu deiner Frage zurück zu kommen. Unser Anführer ist sehr auf das Wohl der Gemeinschaft bedacht. Er ist genauso ein Teil davon und packt auch genauso hart mit an. Er fällt nur Entscheidungen, wenn diese notwendig sind und erhebt auch nur dann sein Wort, wenn es innerhalb unserer Gemeinschaft zu Reibereien kommt. Ansonsten unterscheidet ihn nicht viel von den anderen."
Ben hält inne. "Nein, das stimmt nicht so ganz", murmelt er plötzlich.
"Was meinst du?", harkt Emma nach.
"Das Einzige, das ihn tatsächlich von allen unterscheidet, ist die Art wie man ihn begrüßt."
Ben beginnt zu grinsen, als er ihren fragenden Blick sieht und versucht es mit einem Husten zu tarnen.
"Alles in Ordnung?", fragt Emma, "Hast du dich verschluckt?"
"Danke, es geht schon", keucht Ben, der sich nun wirklich verschluckt hat. Nachdem er den Reiz in seiner Kehle unter Kontrolle gebracht hat, erklärt er mit kratzender Stimme: "Man neigt kurz sein Kinn gen Boden. Das ist ein Zeichen des Respekts. Auf mehr musst du nicht achten."
"Also muss ich das machen, wenn ich ihn sehe?", erkundigt sich Emma sicherheitshalber.
"Das wäre nicht verkehrt. Immerhin entscheidet er, ob du bleiben darfst."
"Oh", macht Emma, der nicht bewusst war, dass ihr Aufenthalt dort noch entschieden werden muss.
Ben lächelt, als er ihr langes Gesicht sieht.
"Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, dass er nicht ablehnen wird."
"Wie kannst du dir da so sicher sein?"
"Einfach, weil ich ihn kenne", gibt Ben verschmitzt zurück.~•~
"Vorsichtig", mahnt Ben, als Emma den Abhang hinunter tappst. Die kalte und nasse Winterzeit hat den Untergrund ordentlich durchnässt, sodass das Hinuntergehen nun eher einer Rutschpartie gleicht.
Emma wartet nur darauf, dass sie solange Purzelbäume schlägt bis sie unten angekommen ist.Zaghaft schiebt sie einen Fuß vor den anderen, während sie die Arme ausbreitet, um ihr Gleichgewicht besser halten zu können. Auf ihrem Gesicht steht ein konzentrierter Gesichtsausdruck und ihre Augen richten sich ausschließlich auf ihre Füße.
Sie muss ein erbärmliches Bild abgeben und allein dieser Gedanke lässt sie lächeln.Ben, der den Abhang und seine Tücken kennt, ist schon ein gutes Stück voraus, als er sich nach Emma umdreht.
Auch er muss lächeln, erbarmt sich aber und stapft zu ihr wieder hinauf.
"Lass mich dir helfen", bittet er und hält ihr die Hand an.
Emma blickt kurz auf und lehnt dankend ab.
"Ich reiße uns beide in die Tiefe. Dann sehe ich lieber alleine wie ein Schwein aus, das kürzlich ein Schlammbad nahm."
Kopfschüttelnd belächelt Ben ihre Worte und bleibt nun mit ihr auf einer Höhe, sodass er zumindest nach ihrem Arm greifen kann, sollte sie das Gleichgewicht doch verlieren."Benötigt ihr Hilfe?", ertönt plötzlich eine laute Stimme, die beide aufblicken lässt.
Am Fuße des Abhang steht ein junger blonder Mann, über dessen Schulter drei Hasen hängen.
"Tom, ich würde Ja sagen, aber dieses Mädchen hier", Ben zeigt zu Emma, "Würde auch deine Hilfe ablehnen."
Tom lacht und geht auf den Abhang zu.
"Ich stelle mich hier einfach vorsichtshalber hin", ruft er und blickt Emma entgegen, deren Gesicht eine rote Färbung angenommen hat.
Ihr ist das alles mehr als unangenehm.
Am liebsten würde sie nun einfach schnell unten ankommen, aber sie weiß ein falscher Schritt und sie sieht am Ende wirklich wie ein Schwein aus.
Sie gibt sich alle Mühe sich selbst nicht zu hetzen und kommt tatsächlich nach einiger Zeit heil und sauber unten an."Hast du es endlich geschafft", begrüßt Tom sie grinsend und hält ihr seine Hand hin.
"Meinen Namen kennst du ja bereits."
"Emma", stellt sie sich vor und ergreift seine Hand.
"Interessant", mischt sich Ben ein, der hinter ihr zum Stehen kommt, "Mir hast du deinen Namen nicht verraten."
"Ich habe entschieden, dass ich euch soweit vertrauen kann, dass ich euch meinen Namen verrate", sagt Emma und lächelt.
"Wie gnädig von dir", schmunzelt Ben und geht voraus, "Komm, nun ist es wirklich nicht mehr weit."
Das hatte er ihr schon häufig gesagt und Emma ist neugierig, ob er dieses Mal recht behält.~• Fortsetzung folgt •~
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When the snow falls
ParanormalFernab der Zivilisation, versteckt in einem tiefen, endlosen Wald liegt ein kleines Dorf. Jedes Jahr, sobald der erste Schnee fällt, wird ein Mädchen erwählt, die zu sein, die diesem Ruhm und Reichtum einbringen soll. Dafür muss es das Dorf verlasse...