sechzig

4.3K 144 120
                                    

Schwärze stieg immer mehr in mein Blickfeld und ich kämpfte damit, nicht ohnmächtig zu werden. Ich blinzelte, versuchte wieder klar sehen zu können. Es gelang mir nur langsam.

Mir war kotzübel und ich fühlte mich so schlecht wie noch nie. Vollkommen ausgelaugt, diese Leere in mir wollte nicht von mir weichen, die Ungewissheit, was mit Rose war, setzte mir jedoch von allem mit Abstand am meisten zu.

„Lass mich nicht allein." war alles was ich die Fahrt über noch gemurmelte. Vermischt mit zahlreichen tonloses Gejammer und Seufzern, bevor ich danach mit den Tränen kämpfte. Ihre spröden Lippen öffneten sich kurz. Mein Herz schlug als ob ich gerade fünf Kilometer gerannt wäre. Der Kloß in meinem Hals war wie weggefegt und meine Hände wurden nass. Vor Schweiß. Vor Anspannung. Vor Angst. Vor Stress.

Kurz flatterten ihre blassen Lider, danach bewegten sie sich keinen Millimeter mehr. Panik ergriff mich und ich rüttelte an ihrer Schulter, an ihren schmalen dürren Ärmchen. Es war, als ob man ein Skellet berühren würde. Wo man auch hinfasste, es war nichts außer Knochen. Mir wurde schlecht und mein Magen rumorte. Der eine Sani gab mir Beruhigungstabletten, doch die halfen kein bisschen. Nicht mal annähernd wurde ich ruhiger und ich hatte das Gefühl, sie bewirkten das Gegenteil.

„Nicht aufgeben", flüsterte ich heißer vorhin im Krankenwagen. Meine Stimme kam mir so komisch vor. Fremd, als gehöre sie nicht zu mir. Wieder schluchzte ich. Dabei wusste ich nicht zum wievielten Mal in diesen Minuten. „Du hattest dich doch so auf den Backstagebreich gefreut, nicht wahr? Auf die Jungs, komm schon, du hast mich stundenlang damit vollgelabert wie sehr du die Band vergötterst." Ich wusste, dass sie nicht antworten würde und doch stellte ich ihr diese Frage. Speichel lief ihr vom Mundwinkel heraus, landete auf dem sterilen Tuch, auf welchem sie lag. Halbtot.

Ich öffnete die Augen und brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass ich wohl geschlafen hatte. Das grelle neonfarbene Licht brannte in meinen Augen und ich brauchte eine Weile, bis ich mich daran gewöhnt. Mist, ich war so ein Idiot! Ich stürzte auf die nächstbeste Schwester und redete aufgeregt auf sie ein, ob es schon etwas neues gäbe, doch sie schüttelte nur den Kopf und meinte, sie wüsse nichts von einer Miss Lancaster.

Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sie musste kämpfen. Kämpf, Rose, kämpf, spornte ich sie innerlich an. Ja, sie kämpfte und ich kämpfte mit ihr.

Kaputt von den Ereignissen des Tages fuhr ich mir durch die Haare und biss mir unruhig und ungeduldig zugleich auf die Lippen bis ich Blut schmeckte. Ich lehnte mich an einer Wand an. An der gegenüber von mir hingen Briefen von Patienten. Ich stieß mich ab und taumelte zu den Briefen. Alle laß ich mir genaustens durch. Die einen handelten von Krebs, Tumoren, in dem sie über die Hochs, die Tiefs das ständige auf und ab berichteten. Andere über Alzheimer oder Organspenden, doch einer davon, stach mir besonders ins Auge.  Ich starrte auf den handgeschriebenen Brief.

Magersucht

Sie zerstörte mein Leben und doch ist sie bis heute ein Teil von mir. Wird es vermutlich immer bleiben. Ich wollte nie das es so weit kommt. Nie, doch ich konnte es nicht verhindern. Die Magersucht war mein größter Feind und gleichzeitig mein bester Freund. Von Anfang an war ich unzufrieden mit mir. Mit meinem Körper.

Die Krankheit riss mich ohne Vorwarnung in einen Strudel, in einen Teufelskreis aus dem man aus eigener Kraft nur einen minimalen Hauch einer Chance hat. Ich aß immer weniger und wenn ich mich vor den Spiegel stellte, sah ich eine dicke Frau vor mir, die an Übergewicht kaum zu toppen war.

Es wird gesagt, dass die Magersucht ein Teil von dir ist. Doch ich fühlte mich, als ob ich ein Teil der Magersucht geworden bin.

Ich aß eine kleine Schüssel Obstsalat und kam mir wie ein Fressmonster vor. Für Außenstehende ist das sehr schwer nachvollziehbar, für mich war es normal. Vielleicht gehören Sie selbst zu der Spezis, die Menschen mit Magersucht beziehungsweise Bulimie, als armselig oder gar eine Schande bezeichnen. Und falls Sie genau so denken, dann lesen Sie eine Biografie von einem Menschen mit dieser Krankheit und Sie werden all diese Äußerungen zurücknehemen. Denn - man sollte nicht kopflos urteilen, ohne eine Ahnung zu haben.

I hate it to be hungry #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt