"Was ist passiert?" Wie durch Nebel dringt Ellies Stimme zu mir. Ich sehe, wie ihre Finger über meinen Handrücken streicheln, fühle aber nichts. Mein Körper ist taub, so taub, wie damals.
"Joelle und ich waren uns einig, dass wir keine Kinder wollen.", beginne ich stockend zu erzählen. "Zumindest zu diesem Zeitpunkt. Ich war beruflich auf dem Zenit, viel unterwegs und wenig zu Hause, nichts, was sehr familenfreundlich ist. Und auch für Joelle stand ihre Karriere im Vordergrund, als Journalistin muss man am Ball bleiben, man kann nicht einfach mal so jahrelang zu Hause bleiben und sich um Kinder kümmern. Aber, wenn du eine gewisse Zeit zusammen bist, dann fängt dein Umfeld an zureden, man fragt sich, warum keine Kinder kommen, wer von beiden Schuld daran ist. Dass man einfach nicht will, dass Kinder nicht in die Lebensplanung passen, das zieht kaum einer in Betracht. Und wenn man dann noch in der Öffentlichkeit steht, ist der Druck von außen drei Mal so hoch. Alle Welt stellt sich die Frage, warum es im Hause Kelly nicht klappt. Immer wieder diese freudigen Artikel in diversen Hochglanzmagazinen, die suggerieren, dass es endlich geklappt hat, das größte Glück endlich da ist. Hast du eine Ahnung wie zermürbend es ist, wenn in jedem Interview darauf gegeiert wird zu erfahren wo die Kinder bleiben? Ich habe recht schnell Fragen nach meinem Privatleben auf die rote Liste gesetzt. Sie sind schlichtweg verboten."
"Aber letzte Woche hast du eine Ausnahme gemacht.", unterbricht Ellie mich überrascht.
"Du hast das Interview gesehen?" Ich weiß nicht, ob ich erfreut bin oder es mir unangenehm ist. Mein Arbeits-Ich unterscheidet sich gewaltig von der Person die ich wirklich bin. Michael Patrick Kelly ist ein Produkt, etwas, das vermarktet werden kann, das nach Belieben und jeweiligem Zeitgeist geformt und immer wieder neu erfunden werden kann. Zuhause bin ich immer noch Paddy, manchmal etwas schüchtern, tollpatschig, ein Durchschnittstyp, der nicht kochen kann und gerne vergisst den Müll rauszubringen. Auf der Bühne bin ich Profi, ich weiß was ich tue und was ich machen muss um die Massen zu begeistern, die Bühne ist mein Element, dort bin ich wieder Fisch im Wasser, während mir im Alltag das Schwimmen oft schwer fällt.
Ellie zuckt mit den Schultern. "Das war Jasmins Idee, sie meinte, wenn man schon einen Star kennt, dann muss man auch wissen, was er beruflich so treibt. Mir ist das eigentlich schnurz, am Ende des Tages kochst auch du nur mit Wasser, aber du kennst ja Jasmin, wenn die sich einmal was in den Kopf gesetzt hat..." Sie pustet sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sieht mich unsicher an. "Schlimm?"
"Nein, warum sollte es schlimm sein? Das ist für alle zugänglich, ich kann euch nicht verbieten so etwas zu schauen. Vielleicht etwas unangenehm." Schweigend starre ich in den Garten, langsam beginnt es zu dämmern. Ich springe auf und hole Holz für die Feuerschale, schnell sind die Scheite aufgestapelt und kurz darauf knistert ein kleines Feuer.
"Wie ging es weiter mit dir und Joelle? Was ist passiert?" Ellie klingt interessiert, aber die Spur Sensationslust, die ich so hasse fehlt in ihrer Stimme.
Ich schweige, kraule Bowie, der sich zu uns gesellt hat, hinter den Ohren, dann beginne ich zu erzählen. "Das was immer und immer wieder auf dieser Welt passiert, sie ist doch schwanger geworden. Ob sie die Pille einfach vergessen hat oder ob sie aus irgendwelchen Gründen versagt hat haben wir nie herausbekommen, es ist auch egal. Passiert ist passiert. Am Anfang hatte ich das Gefühl, dass eine Welt zusammenbricht, alle Pläne standen auf einmal auf der Kippe, es hat alles durcheinander geworfen, aber dann... Irgendwann war da so ein wohlig, warmes Gefühl und der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht so schlimm ist, dass es funktionieren kann, dass wir eine Familie werden. Ich war so in diese Idee verliebt, dass ich nicht gemerkt habe, dass Joelle mit jedem Tag stiller geworden ist. Ich habe Luftschlösser gebaut, das Kinderzimmer im Kopf eingerichtet, Namen überlegt, habe mich als daddy gesehen. Ich habe mich gefreut, habe darauf vertraut, dass Gott schon weiß, was er tut und uns nichts aufbürdet, was wir auch tragen können. Und dann kam der Anruf aus der Klinik, in dem Moment ist alles zusammengebrochen. Joelle... Sie hat... Es gab Komplikationen, eigentlich ist es ein Routineeingriff hat mir der Arzt erklärt, aber bei ihr gab es unerwartete Komplikationen, Nachblutungen, zwischendurch war es ziemlich kritisch, deswegen hat man mich benachrichtigt. Sie wollte es mir nicht sagen, sie wollte mich nicht enttäuschen, mich nicht verletzen, vielleicht auch ihre eigene Schwäche vor mir verbergen. Ich habe versucht Verständnis für sie aufzubringen, ich habe versucht zu verstehen, was in ihr vorgegangen ist, aber es hat etwas kaputt gemacht, etwas grundsätzliches. Das bedingungslose Vertrauen war verschwunden, immer schwebte Argwohn im Raum, immer die Frage, wo sie mich noch belogen hat, wann sie es wieder tun wird. Wir haben versucht uns zusammenzuraufen, unsere Beziehung zu retten, dort anzuknüpfen,wo wir vor der Schwangerschaft waren, aber es ist so viel kaputt gegangen. Als wir wieder miteinander schlafen wollten, war da die Angst, dass sie erneut schwanger wird, die Angst, was dann passiert, wir haben doppelt verhütet und... Es ging nicht, ich konnte nicht. Und doch wollte ich unsere Beziehung retten, wollte sie nicht gehen lassen, habe daran geglaubt, dass wir es irgendwie schaffen können. Vielleicht war es auch das schlechte Gewissen, weil ich mir die Schuld dafür gegeben habe. Ich habe einen Ring gekauft, habe ihr einen Heiratsantrag gemacht. Joelle hat das einzig richtige getan, sie hat nein gesagt und sich von mir getrennt. Am Anfang habe ich gedacht, dass ich nie wieder glücklich werden kann, ich habe mich gefühlt, als wenn mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre. Ich habe mich von allem zurückgezogen, von meinen Freunden, aus der Öffentlichkeit, ich war so weit meine Karriere hinzuwerfen, ich konnte nicht mehr und ich wollte nicht mehr. Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich gemerkt habe, dass Joelle mir eigentlich einen Gefallen getan hat. Sie hatte den Mut das zu beenden, was schon lange nicht mehr gelebt hat." Ich seufze leise und starre in die Flammen, die in der Dunkelheit hin und her tanzen. "Ich wäre kein guter Vater geworden, das weiß ich mittlerweile. Ich wäre trotzdem zu viel unterwegs und zu wenig zu Hause gewesen, Joelle wäre mit dem Kind allein gewesen und ich der Wochenenddaddy, der ich nie sein wollte. Ich habe keine Ahnung von Kindern, das merke ich immer wieder, wenn du mit Ivy und Noah hier bist, bei dir sieht alles so einfach und natürlich aus und ich fühle mich wie der letzte Vollidiot." Mein ganzer Körper krampft sich zusammen, als ich an die Zeit damals zurückdenke, der Schmerz kehrt zurück, als wenn er nie weg gewesen wäre, keuchend halte ich die Hände an meinen Magen und atme tief durch um mich nicht übergeben zu müssen. All die Bilder sind wieder da, gestochen scharf, in bester Qualität. Joelle blass und klein in ihrem Krankenhausbett, der Ausdruck in ihren Augen, als sie mich das erste Mal angesehen hat. Es lag so viel Schmerz und Verzweiflung darin, nur deswegen bin ich geblieben, weil ich wirklich überzeugt war, dass sie wusste, einen Fehler gemacht zu haben. In einem unserer unzähligen Streits, als sie mir entgegen geschleudert hat, dass sie ihren Entschluss nicht eine Sekunde bereut hat, nur bereut, dass ich davon erfahren habe, wich mein Mitgefühl einer Kälte, die nach und nach Besitz von mir ergriffen hat. Sie wollte es als Fehlgeburt darstelllen, so etwas passiert häufig, vor allem die ersten drei Monate sind eine kritische Zeit, so viel war mir durch meine Schwestern und Schwägerinnen durchaus bewusst. Dieser Akt des Hintergehens, des Inrigen schmiedens war es, der unserer Beziehung am Ende den letzten Stoß versetzt hat. Und doch versuche ich jetzt Joelle zu schützen. "Bitte denk nicht schlecht über sie.", murmele ich. "Sie war damals nicht Herrin ihrer Sinne, sie wusste keinen anderen Ausweg."
Ellie schweigt, hat die Hände ineinander verkrampft und wirft immer wieder einen kurzen Blick zu den Zwillingen. "Ich kann sie in gewisser Weise verstehen,", kommt es irgendwann von ihr. "So eine Entscheidung... Man trifft sie nicht von heute auf morgen. Egal in welche Richtung sie geht, man überlegt. Als... Als ich den positiven Schwangerschaftstest in der Hand gehalten habe, da habe ich auch kurz überlegt was ich mache. Es wäre so einfach gewesen, das Geld, welches Anthony mir angeboten hat, nehmen, ein kleiner Eingriff und mein Leben wäre geblieben wie es war. Ich hätte mir viele Probleme erspart, aber ob ich am Ende glücklicher gewesen wäre, das weiß ich nicht. Ich kann nur im Heute leben, ich kann dir sagen, ob heute ein guter oder schlechter Tag war und selbst an so einem miesen Tag bereue ich keine Sekunde lang, wie ich mich entschieden habe. Aber, ich habe mit offenen Karten gespielt, ich habe Anthony die Wahl gelassen und auch Steve, ich habe niemanden gezwungen bei den Kindern und mir zu bleiben. Anthony hätte jederzeit das Recht seine Kinder zu sehen, dass er es nicht in Anspruch nimmt ist seine Entscheidung, nicht meine. Sie... Also Joelle, sie hätte dir die Wahl lassen müssen, es war euer Kind."
Leise seufze ich, diese Diskussion haben Joelle an so vielen Abenden geführt. "Aber es ist ihr Körper, ich hätte sie nie zwingen können und auch nicht zwingen wollen.", kommt es recht lahm von mir.
Interessiert sieht Ellie mich an. "Warum nimmst du sie immer noch in Schutz? Nach allem was passiert ist bis du anscheinend doch auf ihrer Seite."
"Ich habe sie geliebt, wir haben viele Jahre zusammengelebt, wir waren ein Team. Was bringt es mir, wenn ich jetzt schlecht über sie spreche? Sie hatte ihre Gründe, sie hat mich verletzt und belogen, ja, aber ich bin auch kein Unschuldslamm und nicht ganz unschuldig daran was passiert ist. Ich habe nicht zugehört, ich habe nicht hingesehen, gerade weil wir uns so gut kennen, hätte ich sehen müssen, dass etwas nicht stimmt, aber ich habe nur mich gesehen. Wir haben genug gestritten, es ist alles gesagt, es ist viel zu viel gesagt, wir gehen jetzt weiter, jeder auf seinem eigenen Weg." Ich taste in der Dunkelheit, die sich in der letzten halben Stunde über uns gelegt hat, nach Ellies Hand, mein Körper fühlt sich nicht mehr taub an, im Gegenteil, alles kribbelt, kleine Stromstöße, die durch meinen Körper zu fließen scheinen. "Und du?"
"Was und ich?", Ellies Stimme klingt brüchig.
"Gehst du auch weiter?" Hoffnungsvoll sehe ich sie an. Mit einem leisen Seufzen entzieht sie mir ihre Hand.
"Paddy... Ich... Ja, ich gehe weiter, aber... Ich bin nicht alleine auf meinem Weg, ich trage Verantwortung für drei weitere Lebewesen, drei Kinder, die sich auf mich verlassen. Wenn ich mich ablenken lasse, wenn ich nicht bei der Sache bin, dann funktioniert unser fragiles System nicht mehr. Es gibt so viele Baustellen in meinem Leben, ich kann es mir nicht erlauben noch eine weitere aufzumachen." Ein leiser Laut des Bedauerns verlässt meine Kehle und stumm nicke ich.
"Sorry, ich wolle dir nicht zu nahe treten.", wispere ich. "Wir sind heute Abend vielleicht beide etwas sentimental, zu sentimental."
Ellie stemmt sich hoch und streckt sich einmal mit einem lauten Gähnen. "Ich sollt jetzt wirklich nach Hause gehen, bevor wir in unserer Gefülsdudelei noch etwas sagen oder machen, das wir morgen bereuen."
"Du willst jetzt noch nach Hause?" Ich werfe einen schnellen Blick auf mein Handy, es geht bereits auf Mitternacht zu.
Ellie lacht leise. "Natürlich oder soll ich auf deinem Sofa schlafen? Es sind nur ein paar Minuten zu Fuß und etwas frische Luft wird mir gut tun." Ich verkneife mir den Kommentar, dass wir bereits den ganzen Abend draußen gesessen haben und wir mehr als ausreichend frische Luft eingeatmet haben. "Komm, ich helf dir noch die Sachen in die Küche zu bringen." Sie packt Geschirr und Essensreste in den kleinen Korb und ich trotte, eine der Tragetaschen in der Hand, hinter ihr her.
Etwas unschlüssig stehen wir in der Küche voreinander, ich möchte sie noch nicht gehen lassen, will den Abend hier noch nicht beenden, ich will ihr aber auch nichts aufzwingen. "Tja, also..." Ich wippe nervös auf und ab.
Auch Ellie sieht nun unschlüssig aus. "Ja, genau...", murmelt sie.
"Wir könnten noch einen Film schauen.", schlage ich vor und verdränge dabei erfolgreich die fortgeschrittene Uhrzeit.
"Klar, gerne." Auch Ellie scheint vergessen zu haben, wie spät es ist. Ich deute auf unsere Gläser und eine Flasche Wasser und bitte sie alles mit ins Wohnzimmer zu nehmen, dort schüttele ich schnell die Kissen auf, lege eine weiche Decke auf die kühlen Lederpolster und zaubere aus der Schublade der Kommode sogar noch eine Tüte mit Chips heraus. Der hastige Blick auf das Verfallsdatum zeigt mir, dass sie noch nicht all zu lange abgelaufen sind, so oft esse ich keine Chips, zu fettig und die Krümel bekommt man kaum aus den Sofaritzen heraus, aber heute ist es mir egal. "Was wollen wir schauen?" Mit einer schnellen Bewegung öffne ich das Streamingprogramm und sehe Ellie erwartungsvoll an, Bowie lässt sich mit einem erschöpften Schnaufen vor dem Sofa auf dem Teppich nieder.
"Oh, keine Ahnung, ich weiß gar nicht, was aktuell so läuft. Entscheide du." Sie wirft noch einen kurzen Blick zu den Zwillingen, dann setzt sie sich zögernd und mit mehr Abstand als mir lieb ist, zu mir auf die Couch. Ich wähle einen beliebigen Film an, dessen Beschreibung ihn als romantische Komödie betitelt und versuche der Handlung auf dem Bildschirm zu folgen, was gar nicht so einfach ist,mit Ellie nur wenige Zentimeter von mir entfernt.
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Music my saviour
FanfictionPerfektionist trifft Chaotin, aber was tut man nicht alles um an Hilfe zu kommen. Ein Bestatter im tiefsten Niederbayern, der eigentlich keiner ist und eine junge Frau, die sich nur zu gerne um den Finger wickeln lässt. Ganz nebenbei soll sich ein C...