Teil 62

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Ellie

„Hast du alles?" Kritisch mustere ich die kleine Reisetasche, die von Pippa ins Gästezimmer getragen wird.

„Ich denke, so viel brauche ich für die paar Tage ja nicht."

„Mutterpass? Krankenkassenkarte?" Augenrollend drückt Pippa sich an mir vorbei und verschwindet in der Küche. „Pippa, das ist wichtig."

„Ja mom, ich weiß, deswegen ist alles auch schon griffbereit. Nun chill mal!" Pippa schiebt sich einen Keks nach dem anderen in den Mund und wirft mir einen Blick zu, der genau das aussagt.

„Chill mal? Aha. Weißt du was, gute Idee, das werde ich machen und spazieren gehen! Allein! Ich lass die Zwillinge bei dir." Ich schnappe mir auch ein Plätzchen und knabbere lustlos daran herum. Morgen ist Heiligabend und noch ist weder das Haus dafür bereit noch ich.

„Was ist nun eigentlich mit Patrick? Kommt er morgen?"

Tja, was ist mit Patrick? Wenn ich darauf nur eine Antwort wüsste. Vor über einer Woche ist er aus meiner Küche verschwunden und seitdem, wie vom Erdboden verschluckt. Er geht nicht an sein Handy und sein Haus sieht aus, als ob niemand da wäre. Ich versuche mir so wenig Sorgen wie möglich zu machen, sage mir immer wieder, dass er wahrscheinlich nur zu einem Freund gefahren ist, vielleicht braucht er ein wenig Abstand. „Kommt Louis nun eigentlich mit?", wechsele ich schnell das Thema, bevor ich wieder emotional werde, ich will Pippa nicht zeigen, wie viele Sorgen ich mir wirklich mache. Mein Ablenkungsmanöver scheint zu funktionieren, denn ein Strahlen gleitet über ihr Gesicht.

„Ja, er hat es mir versprochen, sich dafür Zeit zu nehmen. Er will für mich da sein, hat er gesagt. Schauen wir mal, was von den Versprechungen übrigbleibt, wenn das Training wieder lockt."

Ich lege kurz meine Hand auf ihre Wange und sehe sie eindringlich an. „Egal was passiert, mach dein Glück nicht von ihm abhängig, mach dein Glück nie von anderen Menschen abhängig."




Patrick

Mit gesenktem Kopf trotte ich den Brüdern in die kleine Kapelle hinterher, der Duft nach Kerzenwachs, Weihrauch und den Gerüchen der anderen Menschen empfängt mich und hüllt mich wohlig ein. Es ist noch früh an diesem Morgen, draußen ist es stockdunkel, die Kapelle wird nur von den Kerzen beleuchtet, was um diese Uhrzeit gefährlich sein kann. Immer wieder muss ich ein Gähnen unterdrücken, als ich mich in die Bankreihe einfüge und mich hinknie. Nach dem Kreuzzeichen steige ich in das leise Gemurmel von lateinischen Gebeten mit ein, während die so bekannten Worte automatisch über meine Lippen kommen, gleiten meine Gedanken ab.

Früher hatte Weihnachten keine große Bedeutung, in meiner Kindheit waren es Tage, in denen die Abwesenheit unserer Mutter besonders schmerzlich bewusst wurde, für große Geschenke war nie das Geld da und so haben wir die Tage oft mit Nachbarn verbracht, gemeinsam gesungen und gegessen. Später war der 24.12. einer den wenigen Tage im Jahr, an dem kein Konzert stattfand. Aber schon einen Tag später war wieder business as usual, für Besinnlichkeit und Ruhe blieb kaum Platz. Das änderte sich erst, als nach und nach alle meine Geschwister Partner hatten, eine Familie gründeten, Weihnachten bekam eine neue Bedeutung, die Feiertage wurden auf einmal wichtig und heilig, es gab zum ersten Mal so etwas wie eine Familientradition. Und auf einmal war ich über, wurde an Weihnachten herumgereicht, wie ein Wanderpokal. Heiligabend bei Bruder a, am ersten Feiertag bei Schwester b und am zweiten Feiertag bei Bruder c, im nächsten Jahr wurde neu gewürfelt und auch wenn sich alle Mühe gegeben haben mich nicht spüren zu lassen, dass ich störe, so war es mir immer klar. In den ersten Jahren mit Joelle haben wir uns dann ausgemalt, wie es sein würde, wenn wir mit unseren Kindern Weihnachten feiern würden, welche Rituale uns wichtig wären. Mit jedem Jahr, ohne dass unser Kinderwunsch in Erfüllung ging wurden auch die Ansprüche an unser Weihnachtsfest geringer, in den letzten drei Jahren haben wir uns in unserer Arbeit vergraben, Weihnachten wurde zu einem Datum im Kalender, nicht mehr und nicht weniger. Nun findet Ellie den Weg in meine Gedanken, wie sie mit rot glühenden Wangen Geschenke für die Zwillinge ausgesucht hat, wie sie erzählt hat, wie Weihnachten mit der kleinen Pippa war und dass sie sich auf die Augen von Noah und Ivy freut, wenn die den Baum sehen.

Music my saviourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt