Kapitel 1

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Das Wohnzimmer in dem mein Vater sitzt stinkt schon von der Küche aus nach ihm und Alkohol. Genauer gesagt stinkt es nach Schweiß, Rauch und Whisky. Teurer Whiskey. Alkoholiker mit Klasse nennt Mama ihn. Hat ihn so genannt. An die Vergangenheitsform mit ihr im Kontext muss ich mich noch gewöhnen. Ihr Tod ist erst Zwei Wochen her. Zwei Wochen in denen Dad seinen eh schon viel zu hohen Alkoholkonsum verdoppelt, seine miese und aggressive Laune um ein dreifaches gesteigert und die Zeit Zuhause auf ein Minimum gebracht hat. Denn er muss arbeiten. Eine Sache, die er immer tun wird. Er mag es nicht, das glaube ich ihm nicht, aber er liebt das Geld, das Ansehen und die Macht die er durch seine Arbeit kriegt. Nichts illegales... soweit ich weiß.

Er kommt aus einer wohlhabenden, großen Familie, hat sich hochgearbeitet zu den Reichen und sitzt jetzt mit in der Regierung für die Stadt und im Vorsitz von hunderten von Clubs und Verbänden. Er wird für seine klugen Einfälle, sein hohes Engagement und tolle Familie gefeiert. Dabei ist nichts an ihm toll. Trinkt wie ein Kamel, schreit wie ein Affe und ist so zerstörerisch wie ein wütender Löwe. Ja, mein Vater ist ein Tier. Ich hasse ihn. Vielleicht ist nicht mal mehr diese vorprogrammierte Liebe in mir für ihn vorhanden, die eine Tochter automatisch für ihren Vater empfindet. Eine biologische Liebe. Doch all das ist mit den letzten Wochen erloschen. Dieser Mann da im Sessel vor dem Fernseher ist für mich nichts mehr. Und schon gar nicht mein Vater.

Wir haben 23 Uhr. In einer Stunde wird er eingeschlafen sein. Ich habe die Schlüssel zu allen Toren und Türen unseres Anwesen, außer zu seinem Arbeitszimmer, aber da hin will ich sowieso nicht. Ich will hier weg. Weg von ihm, weg von seinem Gestank der Verzweiflung und Elend. Und heute Nacht ist es soweit. Mit 500$ in den Taschen und sonst nichts außer meinen Klamotten und dem Armband meiner Mutter werde ich dieses Haus verlassen und nie wieder zurückkehren. Ich wäre an mehr Geld rangekommen, aber das wäre ihm aufgefallen. Am liebsten ist ihm schon immer sein Geld gewesen. Es gibt nichts in diesem Haus, was die grünen Wände, die meine Mutter mit roten Rosen und weißen Lilien bemalt hat, zu einem Zuhause machen würde. Unter dem roten Ziegelsteindach gibt es für mich nichts mehr außer Angst, Leid und Gewalt.
Nicht dass es vor dem Tod meiner Mutter sonderlich anders gewesen wäre. Ich war Elf als ich das erste Mal mitbekommen habe, wie er sie geschlagen hat. Danach konnte er es nicht mehr verstecken oder wollte es ganz einfach nicht und sie auch nicht. Ich weiß nicht mal mehr wann ich sie das letzte Mal ohne blaue Flecke oder roten Stellen gesehen habe. Sie ist sogar mit einem blauem Auge gestorben. Ich war alles was sie hatte. Ich und ihre Farben. Sie hatte das Malen geliebt, eigentlich beinahe alles künstlerische. Und ich hatte sie. Sie und meine Tanzstunden. Wir hatten einander und jetzt nichts mehr.

Ich senke betrübt den Kopf, als mir das Bild in den Kopf kommt, wie sie am Klavier sitzt und mir versucht das Lied für Elise beizubringen. Ihre Finger schweben perfekt über die Tasten. Jede kleine Bewegung ihrer zierlichen Finger ruft einen klaren Ton hervor. Bis all diese Töne zu ein musikalisches Meisterwerk bilden. „Versuch du es jetzt, El.", hat sie mich aufgefordert. Doch meine Finger waren nicht zierlich und konnten auch nicht so wie ihre über die Tasten fliegen. Es waren dumpfe, abgehackte Töne, die in einer willkürlichen Reihenfolge einen lauten Krach verursachten. „Das ist scheusslich. Hör sofort damit auf.", hatte mein Vater einmal zu meinem Versuch gesagt.
Ich wollte nie wieder spielen. Doch am Abend kam Mama zu mir und setzte sich in ihrem weißen Nachthemd auf die Kante meines Bettes. Ihr blondes Harr hatte sie ungemacht über ihre Schultern fallen lassen. Ein Anblick, den nur ich und ihr Mann zu Gesicht bekamen. Denn auch sie war perfekt. Perfekt goldenes Harr, perfekter Körper, perfekte Haltung, perfektes Verhalten und die perfekte Ehefrau. Dabei war das wirklich wahre in dem sie perfekt war, das Muttersein.
Sie saß da und seufzte.
„Hör nicht auf ihn, Maus." Maus durfte nur sie sagen. El, so nannten mich meine Eltern und Freunde, aber Maus, das war nur ihrs. Ich habe ihr nicht geantwortet, mein Gesicht nur weiter im Kissen vergraben. „Ich höre schon auf ihn. Ich habe schon aufgegeben. Nicht auch noch du, Elea. Du bist stärker als ich, viel stärker." Und ich habe auf sie gehört. Habe solange geübt, bis ich das Stück perfekt spielen konnte. Es war und ist bis heute das einzige was ich auf dem Klavier spielen kann, aber ich hab das getan, was meine Mutter wollte, aber selbst nicht konnte. Meinem Vater das Gegenteil beweisen. Seit diesem Abend ist das meine Aufgabe. Alles tun, damit ich meinen Vater trotze. Ob es das Lernen des Stückes, gute Noten, mein erster Freund oder kurze Kleider waren. Alles was er mochte, mochte ich nicht. Was er hasste, hab ich geliebt.

Natürlich hatte mein Verhalten oft Konsequenzen. Ich war 12 als er das Klavier meiner Mutter in der Hitze des Gefechts mit einen Baseballschläger angefangen hat zu zertrümmern. Sie hat es versucht zu reparieren, aber bis heute hört es sich nicht gleich an, wenn jemand in die Tasten drückt. Es hört sich hohl und kaputt an. Mit 15 hat er mich aus der Schule genommen und damit dafür gesorgt, dass ich fast all meine Freunde verliere. Alle außer Roxane. Und als ich 16 wurde und in einem engen Kleid ausging lagen um Mitternacht fast die Hälfte meiner Klamotten im großen Karmin und waren lichterloh am brennen.
Doch eine Sache hat er nie getan. Er hat mich nie geschlagen. Ein Griff an den Arm, ein Zerren am Ohr, aber ihm ist nie die Hand ausgerutscht.
Meine Vermutung ist und bleibt, dass meine Mutter dafür gesorgt hat dass es so ist. Dass sie all das freiwillig abbekommen hat, was hätte mich treffen sollen. Dass einige ihrer Blutergüsse, die sie mit Makeup gelernt hat beinahe perfekt zu verstecken, auf meiner hellen Haut hätten prangen sollen.

Ich zwinge mich von der Tür weg. Das ist also das letzte Bild, das ich von ihm haben werde. Nicht wie er stolz in einem seiner teuren Anzüge für die Presse bei einer Versammlung lächelt und Hände schüttelt, sondern wie er besoffen und im Halbschlaf in seinem roten, großen Sessel hängt. „Versager", murmle ich leise und laufe leise zu den breiten Treppen, die mich zu meinem Zimmer führen.

Auf meinem Bett steht mein Rucksack mit all den Sachen, die ich für eine Flucht als nötig erachte. Klamotten für drei Tage, etwas Kosmetik, ein gefälschter Ausweis und ein gefälschter Lebenslauf. Meinen eigenen Ausweis kann ich schlecht nutzen. Ich werde zwar in Zwei Monaten 18 und dann hat mein Vater kein absolutes Sorgerecht mehr, aber man wird nach mir suchen egal wie alt ich bin. Eigentlich stünde vor mir ein Leben mit Heirat, Festen und Geld. Doch dem will ich entkommen. Leider bin ich Elea Bowen und nicht irgendein Teenager, der von Zuhause abhaut.

Ich kontrolliere noch einmal alles, was ich einpacken will und stecke schließlich doch das Taschenmesser meines Vater, das ich ihm geklaut hab, in die Hosentasche meiner Jeans. Okay, Elea, nur noch eine Stunde. Noch eine Stunde, die ich nervös in meinem Zimmer verbringe.
Kurz bevor die eine Stunde vorbei ist kommen Zweifel in mir hoch. Sollt ich wirklich gehen? Ich hab doch keine Ahnung wie man allein lebt! Ich hab noch nie erlebt, wie es ist kein Geld zu haben! Ich hab von nichts Ahnung.

Ich bleib vor meinem Spiegel stehen. Erst starre ich mir selbst in die knall blauen Augen, die ich von meiner Mutter hab. Dann schau ich auf meine Wange, die Stelle wo sich ein roter Strich über meine weiße Haut zieht. Da wo er mich geschlagen und gekratzt hat. Mein Blick geht an mit runter. Er bleibt an meinem rechten Oberarm stehen, wo sich der gestern noch grüne Fleck langsam lila färbt. Mein Blick zieht noch weiter. Jetzt bleibt er an meinen Handgelenken stehen, an denen noch immer die roten Stellen sind, die zeigen, wie fest er nach mir gegriffen hat. Es gibt noch eine Stelle. Er hat mir gegen mein Schienenbein getreten, als ich mich versucht habe zu währen. Doch dieser Fleck ist vom Stoff meine Hose bedeckt.
Nein, ich gehe. Für mich. Für sie. Ich muss sofort wieder an ihre Worte denken.
Hör nicht auf... Du bist stärker als ich.
Ich habe ihr das nie geglaubt. Ich glaube dass sie genauso stark war, ihre Liebe zu mir war einfach nur viel stärker.

Entschlossen ziehe ich mir meine Jacke über und schwinge den Rucksack über meine Schulter.

Ich bin weg.

„Nur mit dir" |✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt