Ich habs geschafft. Ich habs geschafft. Ich habs geschafft.
Das ist das einzige was mir die ganze Zeit durch den Kopf geht. Ich bin frei. So frei eine 17 Jährige auf der Flucht eben sein kann. Es war nicht schwer. Mein Vater, der alte Sack, ist wie gedacht schon um 24 Uhr tief am schlafen gewesen, nicht mal der Einschlag einer Bombe hätte den Mann wecken können. Ich musste es nur an den Überwachungskameras unbemerkt vorbei und an der Haushälterin Molly. Das ging einfach, weil ich die Kameras in und auswendig kenne. Ich hab mich schon öfters an ihnen vorbei geschlichen, um nachts feiern oder auf Dates zu gehen. Die Kamera im Flur unten geht immer mal wieder aus für ein, zwei Minuten. Ein Leck, das ich schon oft für mich genutzt hab.
Als ich jetzt die kalte Nachtluft tief einatme, fühle ich wie mir eine riesige Last von den Schultern und der Brust fällt. Es ist Ende Sommer, das neue Schuljahr beginnt morgen, aber davon werde ich nichts mitkriegen. Ein hoher Preis für Freiheit. Sofort kommt wieder dieses mulmige Gefühl im Bauch. Nein, ich darf nicht daran denken. Meine Entscheidung ist getroffen.
Ich atme nochmal tief ein und wieder aus. Stimmt es, dass die Luft grade viel klarer und sauberer riecht, als sonst?
In der Ferne erkenne ich die grellen Lichtern des Buses, den ich nehmen werde. Er wird mich bis ans Ende der Stadt bringen. Dort, wo der Einfluss meines Vaters beinahe nicht mehr vorhanden ist. Dort wo ich sicher bin vor ihm und hoffentlich ein neues Leben anfangen kann.Als ich in den Bus steige lächelt mich der Fahrer gelangweilt an. Selbst wenn eine Vermisstenanzeige draußen wäre, würde er mich nicht erkennen. Bevor ich zur Haltestelle gelaufen bin, habe ich einen Stopp bei der Tankstelle gemacht und mich etwas um mein Aussehen gekümmert. Meine langen goldblonden Haare, die mir fast bis zum Hintern gingen, haben nun ein dunkles Blond, was schon fast an braun grenzt. Straßenköterblond, so hieß es auf der Verpackung. Die Länge habe ich auch geändert. Nun reichen sie mir nur noch bis knapp über Schultern, grade so lang, dass ich sie noch zusammen binden kann. Leider sind die Enden sehr stumpf und fransig, da ich die Prozedur mit einer Bastelschere vollführen musste. Wenn man beachtet unter welchen Umständen ich mein Aussehen geändert habe, ist das Ergebnis aber ziemlich akzeptabel.
Ich setze mich leise mit der Kaputze überm Kopf auf einen Sitz ganz hinten im Bus. Meinen Kopf stütze ich auf meinem leicht schmerzenden Handballen ab. Als Dad vor Drei Tagen ausgerastet ist, musste ich mich, nachdem er mich geschubst hat, schwer abstützen. Ich konnte grade so noch Schlimmeres verhindern. Lieber zwei schmerzende Handballen, als ein paar Zähne weniger. Mit betrübten Blick schaue ich aus dem Fenster. Bäume, Bänke und Häuser ziehen an uns vorbei. Und je länger wir fahren, desto weniger Lichter erhellen die dunkle Nacht. Mein blasses Gesicht ist immer besser erkennbar in der leicht schmierigen Scheibe. Wie lang dauert es wohl, bis ich mich an meine neuen Haare gewöhne? Ein paar Tage denke ich schon noch. Doch ich muss mich an viel mehr neues gewöhnen. Mein neuer Name zum Beispiel. Jetzt bin ich nicht mehr Elea Bowen, Tochter vom Bürgermeister Arthur und Martha Bowen, sondern Eve Pierce. Ich komme auch nicht mehr aus unserer Stadt, sondern von weit her. Außerdem bin ich 19. Am 16.09. geboren. Meine Mutter ist letztes Jahr verstorben, mein Vater dieses Jahr an einer Alkoholvergiftung. Eine Weise auf der Suche nach einem Job. Diese Geschichte gehe ich immer wieder durch.
In Drei Tagen habe ich mir eine völlig neue Identität gekauft. Um ehrlich zu sein, habe ich schon länger mit dem Gedanken gespielt, abzuhauen, aber mir war immer klar, dass es für mich solange nicht in Frage kommt, wie Mutter noch bei ihm bleibt. Ihr Tod war ausschlaggebend. Sie ist bei einem Autounfall gestorben. Angeblich. Ich glaube es nicht und es gibt keinen einzigen Grund, warum ich das tun sollte. Sie waren beide essen. Ein Wunder, denn sonst gingen sie nur aus, wenn sie bei irgendeinem öffentlichen Ding erwartet wurden. Sie ertrugen sich nicht lange gegenseitig. Aber sie gingen. Früher hätte ich mal gehofft, dass sie sich doch lieben, mittlerweile bin ich schlauer.
Roxane war bei mir. Wir lagen beide auf meinem Bett, Beine übereinander geschlagen und dabei irgendeine Trash Show zu schauen, als es plötzlich klingelte. Auf den Bildschirmen der Kameras konnte ich den Polizeiwagen und die Polizisten selbst vor der Tür stehen sehen. Mir ist das Herz in die Hose gerutscht. Da konnte nichts dran gut sein. Nichts konnte stimmen. Mit einer eiskalten, zitternden Hand öffnete ich die Tür erstmal nur einen Spalt. Roxane wachsam hinter mir, um mir über die Schulter zu schauen. Es war ein Mann und eine Frau. Ihre Gesichter werde ich nie vergessen. Die Gesichter derer, die mir die schlimmste Nachricht meines ganzen Lebens überbrachte haben. „Elea Bowen?", hat die Frau in einer süßen Stimme gefragt. Als würde irgendein andere blonder Teenager hier im Haus leben. „Die bin ich. Ist was passiert?" Warum sollten sonst Polizisten vor der Tür stehen? Hab ich mich sofort selbst gefragt. „Ja, könnten wir einen Moment reinkommen, Elea? Sie sollten sich vielleicht setzen." Ich weiß noch ganz genau, wie ich mich gefühlt habe, aber nichts ging über den Schmerz, der mich zerriss, als ich schließlich auf unserem Sofa saß und die Polizistin mir die Nachricht überbrachte.
"Elea, Ihre Eltern hatten einen Autounfall. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Mutter noch im Krankenwagen den Folgen ihrer Verletzungen erlag." Roxane saß neben mir, ihre Hände schlug sie mit einem lauten Schnappen nach Luft vor ihrem Mund. Sie war schon am Weinen, als mein Kopf noch alles versuchte zu begreifen. Ihre und meine Mutter standen sich unglaublich nahe. Sie waren die besten Freundinnen, kamen aus schwierigen Familien, haben beide einflussreiche Männer geheiratet und beide eine Tochter zur selben Zeit bekommen. Sie haben eine gemeinsame Vergangenheit, über die selbst ich nicht alles weiß. Es war vorprogrammiert, dass ich und Rox Freunde werden. Für Rox war es also auch ein schmerzhafter Schock.
Ich saß wie eingefroren nur da. Schaute der Polizisten in die hell braunen Augen und suchte in ihnen nach einer Lösung. Nach irgendeinem Hinweis auf eine Lüge, auf ein Versehen. "Das kann nicht stimmen.", war das einzige, was aus mir rauskam. "Doch, es tut mir äußerst leid. Sie haben mein tiefstes Mitgefühl, Elea."
"Es kann nicht stimmen!", hab ich noch einmal lauter gesagt. Ich war völlig überwältigt, nichts in meinem Körper hat mehr funktioniert, wie es funktionieren sollte. "Wollen Sie etwas trinken? Ich kann Ihnen etwas aus der Küche holen." Sie war tot. Meine Mutter. Der Mensch, der mir geholfen hatte all diese Jahre zu leben. Der Grund, warum ich da bin und weiter da sein wollte. Sie war tot. Nicht mehr da und würde es nie wieder sein.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Ausmaß in diesem Augenblick schon begriffen habe, aber es dauerte nicht mehr lange und eine ganz andere Angst kam in mir hoch. "Mein Vater. Ist er auch tot?" Diese Frage ging mir so einfach über die Lippen, dass beide Polizisten einen Blick wechselten. Roxane war in der Küche, flennen und ihre Mutter informieren. Ich brauchte einen Platz, wo ich zunächst bleiben könnte, meinte der männliche Polizist mit den kurzen Haaren. Bestimmt wären schnell irgendwelche reichen Freunde von meinem Vater eingesprungen, die besonders seit letztem Jahr gerne in meiner Nähe sind und auf einmal kein Problem mehr damit haben, wenn mein Vater mich mitnahm zu Essen und Feiern. Aber das waren mitunter die letzten Menschen, die ich sehen wollte. Eigentlich wollte ich nur einen sehen und das wurde mir nicht erlaubt.
Ich hatte schon gefragt, nachdem mir die Frau in blauer Uniform noch drei Mal sagen musste, dass meine Mutter wirklich gestorben ist. "Nein, er hat überlebt." Kein einziger Funken Freude über diese Nachrichte kam in mir auf. Mein Gesicht musste ihnen etwas ähnliches sagen. Schließlich nickte ich nur. Ich habe nicht wirklich geweint. Mir kamen zwar Tränen, aber geweint und getrauert habe ich erst in der Nacht. Bis heute weiß ich nicht, wie ich nicht sofort schreiend und weinend zusammengebrochen bin. Erst als ich im Gästezimmer bei Roxane lag konnte ich mich dazu überwinden. Ich glaube ich habe keine einzige Minute die Augen geschlossen. "Der Bürgermeister, muss zur Vorsicht im Hospiz bleiben. Er wird zurück kommen, sobald es die Ärzte erlauben."
"Wird er nicht von der Polizei befragt?", rutschte es mir raus. Wieder dieser unfassbare Blick der Beamten. "Es gibt keine Hinweise, die auf etwas anderes hindeuten würden, außer einen Unfall. Der LKW ist ihnen einfach reingefahren. Aber es wird für Entschädigung gesorgt, das versichere ich Ihnen." Entschädigung. Ja? Können sie also jetzt seit neustem Menschen von den Toten wiederholen? , hätte ich beinahe gefragt, aber ich habe wieder nur genickt. Es war alles zum kotzen. Das hab ich auch noch getan. Einmal bevor wir von dem Fahrer von Roxs Vater abgeholt worden sind und dann bei ihr. Tage danach wurde mir noch kotzübel, wenn ich an meine Mutter dachte. Aber wem hätte ich es sagen sollen? Rox hätte es ihrer Mutter erzählt und die hätte mich sofort zu einem Arzt geschleppt. Ob Psychologe oder Hausarzt. Sie rennt wirklich für alles zum Arzt.
Doch ein viel schlimmerer Gedanke nistete sich in meinem Hirn ein. Ein Gedanke, an den ich glaube und vor habe zu beweisen, sobald ich es kann.Mein Vater hat meine Mutter umgebracht.
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„Nur mit dir" |✔️
RomanceElea führte ein perfektes Leben. Natürlich, denn wie kann es anders sein, wenn man Tochter eines reichen Mannes und einer wunderschönen Frau ist? Doch hinter den Fassaden der großen Villa haben sich ihr Leben lang Risse verborgen. Nachdem ihre Mutte...