Kapitel 11

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P e r c i v a l

„Dawn, du läufst mit", ruft mein Trainer durch die Gruppe und ich rucke mit dem Blick auf. Beinahe hätte ich all die Wasserflaschen fallen gelassen, die ich für die anderen trage, damit sie genug Flüssigkeit zu sich nehmen. „W-Was?" Heute findet unser erster Wettkampf statt. Die Hunt. Es ist der einzige Wettkampf, an dem wir als Rudel teilnehmen. Die Aufgabe ist den Hirsch mit dem grünen Band um sein Geweih zu finden und dieses Band wieder durchs Ziel zu bringen. Wenn das erfolgte, gewinnt das Team, dessen Spieler als erstes durchs Ziel gelaufen kommt. Eine Disziplin, in der ich noch nie gut war, denn mir liegt es nicht Fährten zu lesen und ihnen zu folgen. Mal davon abgesehen, dass ich gegen diesen riesigen Hirsch eh nichts ausrichten kann. „Du läufst mit", wiederholt er, was mich dazu bringt, jetzt doch alle Flaschen fallen zu lassen und quer durch mein Team zu ihm zu eilen. „A-Aber Sir, Sie wissen doch, dass ich an den Wettkämpfen nicht teilnehme!", mit großen Augen sehe ich zu dem erwachsenen Mann empor und betrachte sein konzentriertes Gesicht, das wie so häufig auf ein Klemmbrett mit der Anwesenheitsliste gerichtet ist. Leicht genervt sieht er zu mir auf. „Die Regeln besagen, dass an der Disziplin jedes Teammitglied teilnehmen muss, einschließlich dir Percival", murmelt er und richtet seinen Blick wieder auf sein Brett. „Aber Sir... ich...", unterbrechend wedelt er mit der Hand. „Du schaffst das schon, entferne dich einfach nicht zu weit und bleibe bestmöglich bei einem anderen Teammitglied, dann passiert dir schon nichts. Deine Aufgabe ist einfach rumlaufen, von dir wird gar nicht erwartet die Beute zu finden", endet er und wendet sich dann von mir ab. Okay, das tat mehr weh als ich vermutet hätte, doch was habe ich mir gedacht, natürlich erwartet niemand etwas anderes. Mit mulmigen Gefühl sehe ich zu den anderen, die sich an der Grenze zum Wald aufwärmen, ehe wir in wenigen Minuten alle gleichzeitig in diesen rennen, um die Herausforderung zu meistern. Ich kann einfach nur hoffen, dass ich nicht über eine Wurzel stolpere und mit dem Gesicht voran den Boden küsse. Weite Strecken zu laufen oder gar zu rennen, ist noch nie sonderlich mein Ding gewesen. Viel zu schnell fühlt sich meine Lunge an, als würde sie verbrennen oder ich hyperventiliere.
Ein Kribbeln zieht sich über meine Wirbelsäule und sofort zuckt mein Kopf zum Waldeingang, wo der Alpha steht. Er trägt eine schlichte blaue Jeans und ein enges weißes T-Shirt. Ich frage mich echt, ob er denn nicht bitterlich friert, da selbst mir mit meiner weißen Uniform und dem kunterbunten Strickpullover kalt ist. Selbst die kleinen Wölkchen vor meinem Mund sagen mir, dass es nicht sonderlich warm ist. Bibbernd, vielleicht auch etwas wegen der Angst vor dem Kommenden, ziehe ich mir meine Kapuze auf und reibe meine kalten Hände aneinander. „Die Aufgabe ist einfach: Findet den Hirsch mit dem grünen Band und bringt dieses als Erster hier durchs Ziel." Es herrscht Stille um uns, als er redet und der Nebel zu unseren Füßen taucht das Ganze in eine mehr oder weniger mystische Atmosphäre. „Wenn der Knall aus der Leuchtpistole ertönt, wisst ihr, dass der Spieler mit dem Band durchs Ziel gelaufen ist und ihr wieder zurück kommen könnt. Bis dahin, ein gutes Spiel", brummt er und plötzlich rennen alle los. Das war's, mehr kommt nicht? Keine Regeln wie „Bringt euch nicht gegenseitig um"? Unangenehm werde ich an meinen Schultern angestoßen und geschubst, als sie an mir vorbei preschen. Mein Blut gerät in Wallung und mein Atem kommt einem Keuchen gleich, als ich mich plötzlich als letzter am Eingang wiederfinde. Sie sind alle schon weg. So viel zum Thema, halte dich an die anderen. Langsam mache ich ein paar Schritte vorwärts und betrete den nebligen, dichten Wald, der mir in diesem Moment gruseliger erscheint als die Tage zuvor. Beschützend schlinge ich meine Arme um mich und schaue auf den Boden, um ja nicht zu stolpern. Als ich ein Blick hinter mich werfe, kann ich kaum noch die kleine Lücke zwischen den Bäumen erkennen, die zur Schule führt. „Wärst du nur nicht mitgefahren", brumme ich zu mir selbst und schieße einen Stock vor mir weg. „Das wirst du sowas von wieder gut machen Dad." Ich hoffe einfach, dass irgendjemand sehr schnell den Hirsch und das dazugehörige grüne Band findet, damit ich wieder in mein Bett kann. Kaum zu glauben, dass es erst Dienstag ist, es fühlt sich eher so an, als wäre ich schon Wochen hier. Wenn ich darüber nachdenke, dass ich noch über eine Woche hierbleiben muss, entwickelt sich ein unangenehmes Gefühl in meiner Magengrube. Ich hatte noch nie Heimweh, ganz einfach aus dem Grund, da ich noch nie woanders war. Immer wollte ich weg, neues sehen, mehr erfahren und mich entfalten, doch jetzt bin ich nicht einmal ein paar Tage wo anders und ich sehne mich nach meinem zu Hause. Ich vermisse Dad, mein Bett, der Geruch unseres Hauses und die grottigen Kochkünste von meinem Vater. Wie oft musste ich schon den Braten retten, weil ihn mein Dad beinahe angebrannt hat. Ein trauriges Schmunzeln huscht über meine Lippen. Ich nehme mir fest vor ihn heute Abend wieder anzurufen, um sicherzugehen, dass er auch ordentlich isst und nicht diese ganzen Fertigprodukte verdrückt. Hoffentlich überarbeitet er sich auch nicht und es geht ihm gut.
Verwirrt schaue ich von dem Waldboden wieder auf, da es plötzlich immer weniger Wurzeln und immer mehr Erde wurde. Ruckartig halte ich inne und falle durch den Schock nach hinten und krache auf mein Handgelenkt. Zischend ziehe ich die Luft in meine Lungen und halte mir stützend mein Gelenk. „Was zum...", schockiert sehe ich auf den rabenschwarzen See vor mir und werde sofort von einer Gänsehaut übermannt. „Wie komme ich hierher?", murmle ich angsterfüllt und stehe vorsichtig wieder auf. Schützend presse ich mein schmerzendes Handgelenk an meine Brust und mache langsam ein paar Schritte vorwärts. Erstaunlich... Nicht einmal hundert Meter entfernt kann ich schon das Ufer des Revier's unseres Rudels sehen. Der See ist tatsächlich nicht wirklich breit. Langsam, und mehr unterbewusst als bewusst, mache ich ein paar Schritte auf's Ufer zu und sehe in die dunklen Tiefen. Der See ist völlig regungslos, beinahe beängstigend still. Neugierig sehe ich auf die Oberfläche. Es spiegelt mich perfekt wieder. Ich sehe verschreckt, ängstlich und nervös aus, wie ich selbst feststelle. Plötzlich fängt das Wasser an, sich um meinen Kopf herum zu bewegen. Wie ist das möglich? Unbewusst mache ich einen weiteren Schritt auf das Wasser zu und sehe mir direkt in die Augen. Mit einem Mal verändert sich meine Augenfarbe in das dunkelste Rot, das ich bisher nur an einer einzigen Person gesehen habe. Entsetzt mache ich einen Schritt zurück und nehme meinen hektischen Atmen und mein wild pochendes Herz war. Als ich auf einmal ein Knacken ganz nahe bei mir höre, renne ich los. Mehr instinktiv und völlig von der Angst eingenommen, hechte ich in den Wald. Keuchend sehe ich nach hinten, doch dort ist nichts, aber ein Gefühl in mir sagt, dass mich meine Augen täuschen. Die Bäume rauschen an mir vorbei, während ich über Wurzeln springe, mich zwischen Äste hindurch schlängle und über das feuchte Moos schlittere. Hustend versucht meine Lunge mehr Luft zu bekommen und fleht mich an, dass ich eine Pause machen soll, doch auch wenn ich möchte, ich kann nicht. Wieder schaue ich kurz hinter mich, übersehe dabei jedoch eine große Wurzel und falle schmerzhaft auf den Boden und kratze mir die Wange auf.  „Autsch!", entkommt es mir und unweigerlich treten mir Tränen in die Augen. Schniefend sehe ich auf und stelle überrascht fest, dass ich einen Meter vor einer großen Lichtung bin. „Ach du scheiße!", keuche ich und sehe, wie ein riesiger, kräftiger, beängstigender Hirsch auf der Lichtung steht und friedlich Gras verschlingt. Ich fass es nicht, ich habe den Hirsch gefunden! Aber selbst wenn ich ihn jetzt gefunden habe, wie soll ich nur an das schöne, große, grüne Band um sein Geweih kommen? Vorsichtig versuche ich auf meine Beine zu gelangen, ohne mich auf mein schmerzendes Handgelenk zu stützen. Meine Beine tun etwas weh, doch es ist erträglich.
So nahe am Ziel zu sein und die Gelegenheit zu haben, von seinem Rudel endlich richtig anerkannt zu werden, ist so verdammt verlockend und macht mich unheimlich traurig. Ich will dieses Band mehr als ich geahnt habe. Unsicher sehe ich zwischen dem Wald und dem ruhigen Hirsch hin und her. „Ach man, das werde ich so bereuen", murmle ich und richte mich zu voller Größe auf, ehe ich mehr humpelnd als alles andere zu dem Hirsch gehe. Leise und zwar so, dass er bestenfalls kaum etwas von mir mitbekommt und mich nicht als Bedrohung sieht. Also schleiche ich langsam zu dem beinahe doppelt so großen Hirsch. In meiner Vorstellung waren sie immer viel kleiner... „Komm schon Großer, du willst mir nichts tun", flüstere ich mehr zu mir und komme ihm immer näher. Sein Geweih ist gewaltig und zum Glück hängt das Band ziemlich weit unten, damit ich es vielleicht noch auf Zehenspitzen erreichen kann. Als ich wenige Schritte seitlich von ihm entfernt stehe, hebe ich vorsichtig die Hand und führe sie, als ich nahe genug stehe, zum Geweih und binde unendlich langsam das Band ab, während ich ihn aufmerksam dabei beobachte, wie er genüsslich weiter sein Gras frisst. Unerwartet breitet sich eine allumfassende Freude in mir aus, als ich es tatsächlich geschafft habe, den Knoten zu lösen. Ungläubig sehe ich auf meine Hände und fange an zu strahlen, als mich plötzlich ein Schnaufen im Nacken trifft. Ruckartig sehe ich zur Seite und in seine braunen Augen. Angst erfasst mich in einem Ausmaß, wie ich es in meinem Leben noch nie gefühlt habe. In Zeitlupe mache ich einen Schritt zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Doch die Angst scheint einen Höhepunkt zu erreichen, als sich seine Augen ungewöhnlich weiß einfärben und er seinen Kopf kampfbreit senkt. Adrenalin zischt durch meine Adern, mein Herz klopf so schnell, dass ich das Gefühl habe, es hätte aufgehört zu schlagen. Ein markerschütternder Schrei entkommt meiner Kehle, als er auf mich los hechtet und ich einfach nur noch meine Beine in die Hand nehme und um mein Leben renne. Schneller als ich jemals gelaufen bin. Mein ganzer Körper fühlt sich taub an, vor lauter Angst. Schmerz durchfährt mich, als er mich hinten erwischt und ich einige Meter weit vor geschleudert werde. Schnell drehe ich mich auf meinen Rücken und beobachte ihn, wie er mit seinem Huf, ähnlich wie ein Stier, im Gras schleift. Zitternd krieche ich nach hinten und gerade als er loslaufen wollte und ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, ertönt ein unglaubliches Brüllen durch den ganzen Wald. Nur schemenhaft sehe ich jemanden aus dem Wald rennen, direkt zum Hirsch, doch es scheint so, als wäre es dem Hirsch nicht möglich, seine Aufmerksamkeit von mir zu lösen. Ein lautes Geräusch ertönt, als dieser Mann den Hirsch am bloßen Geweih packt, um ihn die Möglichkeit zu nehmen, auf mich los zu rennen. Hektisch atme ich ein und aus, und ich bin mir ziemlich sicher, kurz vor einer Panikattacke zu stehen. Der Hirsch gibt ein schmerzerfülltes, wiederstrebendes Geräusch von sich. Unfassbar betrachte ich den Mann, wie er ihn mit seiner bloßen Kraft mehrere Meter weit nach hinten wirft. Er geht auf alle vier, als ein erneutes Brüllen aus seiner Kehle dringt, was selbst mich erzittern lässt und dann steht der Hirsch schnell wieder auf, um auch sofort in die entgegengesetzte Richtung davon zu eilen. Unfähig mich zu bewegen, liege ich bebend auf dem Boden und sehe mit angsterfülltem Blick zu dem Mann, der nun zu mir sieht. Sein Gesicht hat kaum noch etwas Menschliches; sein Wolf scheint beinahe die Kontrolle über ihn übernommen zu haben. Seine roten Augen lassen mir kaum Spielraum zu erraten, wer dieser Mann wirklich ist, doch dieser Umstand vermindert meine Angst nicht, im Gegenteil. Warum auch immer habe ich jetzt noch mehr Angst als zuvor bei dem Hirsch.

Beta: hirntote

Black DepthsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt