Kapitel 58

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P e r c i v a l

Wenn es ihm nicht die völlig durcheinander geratenen Haare von Ares oder unsere schief liegenden Klamotten verraten haben, dann unsere geschwollenen Lippen. Jedenfalls blitzt da etwas Wissendes in seinen Augen auf, was sich zu einem Problem entwickeln könnte. Ich wusste nicht, wie Eze darauf reagieren würde, doch egal wie, ich würde es nicht erfahren, denn ich nehme meine Beine in die Hand und renne davon. Ich könnte es darauf schieben, dass mich die angespannte Präsenz der beiden stärksten Männer dieses Rudels eingeschüchtert hat oder ich sehe einfach ein, dass ich zu feige bin, mich dem Beta des Rudels zu stellen. Zusätzlich habe ich Angst, dass Ares ihm zustimmen würde, dass das falsch ist, was wir tun. Ich habe Angst, aus dem Rudel zu fliegen, weil ich den Alpha verführt habe. Das Schlimmste daran ist nicht einmal, dass ich dann rudellos wäre, nein, es ist der Gedanke, dass ich Ares nie wieder sehen würde, was mir die Luft zum Atmen nimmt.

~

Die gesamte Woche muss ich immer wieder an das Passierte denken und ich habe mich noch nie so geschämt. Ich schäme mich für mich selbst, dass ich mich in meinem Zimmer verstecke und allem aus dem Weg gehe. Angst erfasst mich jedes Mal, dass ich auf Ares treffen könnte und sein ablehnender Gesichtsausdruck mir entgegenblickt oder noch schlimmer: Ezekiel und sein angewiderter Blick. Die Möglichkeit, dass alles ganz anders gelaufen sein könnte und Eze es vielleicht nicht einmal angesprochen hätte, existiert für mich gar nicht. Es hat dafür keinen Platz, viel zu sehr bin ich von Angst geprägt, alles zu verlieren, was mir geblieben ist. Und der Schmerz, der mich packt, bei dem Gedanken, Ares zu verlieren, nimmt mir den Atem aus meinen Lungen. Er setzt meine Venen in Flammen und lässt meinen Körper beben. Es erschreckt mich, wie viel mir dieser Mann bereits nach wenigen Wochen bedeutet. Die Gefühle sind so heftig, dass ich schon an meinen eigenen Verstand zweifle. Immer wieder gehe ich die ganzen Wochen durch und frage mich, wie sich überhaupt alles in diese Richtung entwickeln konnte. Wie kann es sein, dass mich seine Präsenz so einnimmt, dass ich selbst die Menschen um uns ausblende, mich nicht einmal zurückhalten kann, obwohl ich weiß, dass er sein Bett mit seiner Verlobten teilt? Ich dachte immer, dass ich ein netter Mensch bin, der stets versuchen würde sein Bestes zu geben, doch wie sich rausstellt, bin ich noch viel schlimmer als es Hamish oder all die gemeinen Menschen jemals waren. Wenigstens haben mir die nie etwas vorgeheuchelt. Und das schlimmste dran ist, dass ich mich selbst hintergehe. Wie kann ich das nur Cora antun? Sie war so nett zu mir. Das hat sie nicht verdient und dabei ist es auch völlig belanglos, wie egal das Ares ist. Seine und meine Ansichten sind, was sowas angeht, anscheinend ganz anders. Es ist erstaunlich, dass sich der Nebel um mich zu lichten scheint, aufgrund unseres Abstandes in den letzten Tagen, und mir klar wird, welche Folgen mein Handeln mit sich zieht. Ich muss mir überlegen, was ich jetzt tun werde. Einerseits will ich Ares nicht fern bleiben, andererseits bleibt mir nichts anderes übrig, als genau das zu tun. Dabei spielt es keine Rolle, wie ich fühle. Mein Vater hat mich zu etwas Besserem erzogen und dessen muss ich mir wieder bewusst werden.

Ich bin gerade vertieft in mein Buch, als Ell, wie jeden Abend in der vergangenen Woche, in mein Zimmer platzt. „Die Woche ist vorbei!", freut sie sich und ich sehe zu ihr und bin kurz überrascht, sie nicht in ihren Trainingsklamotten zu sehen. Sie trägt eine schwarze zerrissene Latzhose und darunter ein schwarz-weiß gestreiften Pullover, der über ihre Hände reicht und durch den sie ihre Daumen stecken kann. Ihre Haare sind aufwendig nach oben gestylt und verleihen ihr dabei diesen besonderen Look. „Du bist ja noch gar nicht fertig." Verwirrt runzle ich die Stirn. „Wofür?" Ich lege das Buch zur Seite und richte mich auf. „Wir gehen doch jetzt ins Jack's!" Erschrocken reiße ich meine Augen auf und sehe sie an. Das habe ich bereits völlig vergessen. „Tut mir leid, Ell, das habe ich voll vergessen." Schuldig sehe ich zu ihr und eile zu meinem Kleiderschrank. „Wir haben eine halbe Stunde, ehe uns Billy abholt." Sie lässt sich auf mein Bett fallen und blättert durch mein Buch, was ich gelesen habe. Es handelt von der Kunst zu meditieren. Anfangs hat es mich ein bisschen gewundert, warum Ares nicht zu mir gekommen ist, um weiter mit mir zu trainieren, doch wahrscheinlich will er genauso Abstand von mir wie ich von ihm. Wir müssen unsere Gedanken fokussieren und ich empfand es als eine gute Idee, selbst etwas zu lernen und mich etwas abzulenken. Aus meinem Schrank hole ich einen einfachen Pullover und eine Jeans, doch gerade als ich damit mein Zimmer verlassen will, hält mich Ell auf. „Was ist das?" Sie deutet auf die Sachen, die ich in meiner Hand halte. „Meine Klamotten?" „Nein." „Nein?" Ohne weiteres nimmt sie mir die Sachen aus der Hand und geht wieder zurück zu meinem Kleiderschrank. Sie wühlt eine ganze Zeit meine Sachen durch und ich verkneife es mir, mich darüber zu beschweren, dass ich das alles dann wieder aufräumen muss. Es wäre ihr sowieso egal. Seufzend setze ich mich auf mein Bett und nestele etwas an dem Saum meines Pullovers rum. Erschrocken zucke ich zusammen, als sie neben mir ein paar Sachen aufs Bett schmeißt. Ich inspiziere die Klamotten. Bunt, auffällig und eigentlich genau das, was ich liebe. Tatsächlich hat sie mir meine eigene Jeans-Latzhose aus dem Schrank gekramt, von ganz hinten, und mir fällt auf, dass ich sie schon ewig nicht mehr anhatte. Dazu meine bunte Strickjacke, die ich abgöttisch liebe. „Wenn du dich umgezogen hast, werden wir deine Augenringe wegmachen und dein Gesicht noch ein bisschen ausschmücken." Ich habe Augenringe? Das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich habe nicht sonderlich gut geschlafen. Den Albtraum von vor ein paar Nächten hatte ich jetzt jede Nacht, immer etwas anders, doch jedes Mal war ich daran schuld, dass Ares... Ares gestorben oder schwer verletzt ist. Mitten in der Nacht wache ich weinend auf und will einfach nur ein paar Arme um mich wissen. Will seine Nähe, seinen Duft um mich haben, seine Lippen auf mir wissen und spüren, dass ich beschützt werde. Die Versuchung, wieder einfach zu ihm zu schleichen, ist übermenschlich. Es zieht mich zu ihm und dieser Sog ist beinahe schlimmer als alles, was ich zuvor gespürt habe. Von Tag zu Tag wird es unerträglicher und diese Angst und Sehnsucht, die ich in der Nacht so heftig verspüre, breiten sich mittlerweile schon auf meinen Alltag aus. Ich weiß nicht, ob ich froh darüber sein soll, dass er zum Essen nicht auftaucht, da er angeblich zu viel zu tun hat oder es alles nur schlimmer macht. Ich habe ihn seit dem Moment im Trainingsraum nicht mehr gesehen und ich verzehre mich so schmerzlichst sehr nach ihm, dass es mir schon peinlich ist und ich mich selbst verfluche. Es sind gerade mal ein paar Tage und ich habe vor, ihm weiter fernzubleiben. Dabei hilft es nicht, jedes Mal seinen Duft auf dem Flur zu riechen. Nein, es ist qualvoll. Ich sehne mich danach, dass die Schule wieder losgeht und wir einen gewissen Abstand bekommen und ich hoffe, dass es dann besser wird. Doch etwas Kleines, Mächtiges sagt mir, dass es das ganz gewiss nicht wird. Im Gegenteil.
Als ich mich umgezogen habe und mich für Ell brav aufs Bett setze, verwandelt sie mein Gesicht wieder in ein Kunstwerk. Ell erzählt mir von ihrem heutigen Tag und wie sie zum Abschluss sogar von Zalen Blake gelobt wurde. Das soll wohl noch nie vorgekommen sein. Jeden Tag hat sie mir von ihrem Erlebten erzählt und ich habe jedes Mal gespannt zugehört, und wenn bei ihr mal der Name Ares fiel oder sie auch nur den Alpha kurz erwähnt hat, schlug mein Herz für einen kurzen Moment schneller als natürlich. Innerlich hoffe ich sehr, dass sie es nicht mitbekommen hat, auch wenn dies unwahrscheinlich ist. Trotzdem rede ich mir ein, dass sie es unmöglich bemerkt haben kann.
Vor einigen Tagen musste sie gegen ihren Bruder kämpfen und als sie mir erzählte, dass sie gewonnen hat, schwoll mein Herz vor Stolz an. Sie ist eine großartige Kämpferin und sie wird eines Tages die beste Wächterin, die das Rudel jemals gesehen hat. Ich bin stolz auf sie und es freut mich so sehr, sie dabei zu beobachten, wie ihre Augen aufleuchten, wenn sie von den heutigen Übungskämpfen spricht und wie sie alle zusammen die Grenzen abgelaufen sind. Sie blüht dabei auf eine Art auf, wie ich es noch nie zuvor an ihr gesehen habe. Wenn sie doch nur wüsste, wie sehr ich sie bereits nach wenigen Wochen in mein Herz geschlossen habe. Und ich war mir sicher, dass sie dort auch niemals mehr entkommen kann. „Grins nicht so dümmlich!" Strafend sieht sie mich an, doch es bringt mich nur noch mehr zum Lächeln. „Was ist denn so witzig?" Sie hält den feinen Pinsel von mir weg und betrachtet mich skeptisch. „Du bist echt niedlich, wenn du vom Kämpfen redest." Röte schießt in ihre Wangen. „Nenn mich ja nie wieder niedlich!", knurrt sie und ich muss nur noch breiter grinsen. Sie schnauft beleidigt, macht aber mit ihrer Arbeit weiter. „Wieso kannst du das eigentlich so gut?" Konzentriert beißt sie sich auf ihre Lippe und zieht ihre Augenbrauen zusammen. „Als Kind durfte ich nicht wirklich den Dingen nachgehen, die mir gefallen haben", murmelt sie. „Kämpfen?", frage ich. Sie nickt. „Ich wollte immer genau das machen, was mein Bruder machen durfte, doch mein Vater war strikt dagegen. Als meine Mutter noch sie selbst war, hatte sie Mitleid mit mir, weshalb sie mir Mädchenkrams gekauft hat, weil sie dachte, mir würde das gefallen", erzählt sie. „Und das hat es?" „Gott nein, ich habe diesen ganzen Glitzer-Scheiß gehasst, doch ich habe Gefallen daran gefunden, meine Augen schwarz anzumalen und da ich so viele schrecklich hässliche Puppen hatte, die mir meine Eltern gekauft haben, habe ich angefangen sie zu bemalen. Ich habe mich an ihnen ausgetobt, mit bunten Farben und besonders die schwarzen. Vielleicht auch, um meine Eltern damit glücklich zu machen. Sie fanden es sowieso nie toll, dass ich mich lieber mit meinem Bruder draußen im Gras gerauft habe, als mich mit Puppen und solchem Zeug zu beschäftigen, wie es die anderen Mädchen in meinem Alter taten." Sie verdreht die Augen, als würde sie es rückblickend lächerlich finden, doch ich sehe auch Schmerz in ihren Augen aufblitzen. Ich kann sie sehr gut nachempfinden. Anders zu sein ist zwar keine schlimme, aber dafür eine um so schwerere Angelegenheit. „Als Kind habe ich gehofft, wenn ich sie auf diese Weise beschwichtige, würden sie mich wenigstens ab und zu mittrainieren lassen. Das haben sie nicht, also tat ich es für mich alleine. Überraschenderweise habe ich aber trotzdem Gefallen darin gefunden, mich extravagant zu schminken. Mit schwarz selbstverständlich."
„Selbstverständlich", grinse ich. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen. „Du siehst damit auch wunderschön aus", sage ich ehrlich und sehe ihr direkt in die Augen. Ruckartig hält sie mit dem Pinsel inne, ehe sie schnauft. „Halt jetzt die Klappe, ich will fertig werden", murrt sie und tut damit so, als hätte sie meine Aussage kaltgelassen, doch ihre roten Wangen und das Schimmern in ihren Augen strafen sie der Lüge. Es tut mir leid, dass sie solche Dinge in ihrer Kindheit durchmachen musste und anscheinend früh ihren Vater verloren hat. Auch wenn sie immer so kalt und distanziert tut, weiß ich, dass sie innerlich anders fühlt. Ares und sie sind sich, was das angeht, sehr ähnlich. Sie tun von außen so hart, doch innerlich sind sie sogar weicher und liebenswürdiger als so manch anderer. „So, fertig", verkündet sie und hält mir einen kleinen Spiegel hin. Meine Augen weiten sich, als ich ihr Kunstwerk betrachte. Es ist dezent, doch auch fröhlich, mit bunten Farben, einem blassen Regenbogen über meinen Augen und etwas Glitzer über meine leicht geröteten Wangen. Es passt zu meinem bunten Outfit. Meine Locken hängen mir etwas in die Stirn und lassen alles irgendwie verwegen erscheinen. „Oh warte! Die musst du unbedingt aufsetzen!" Ich sehe zu ihr und beobachte sie dabei, wie sie in ihrer Tasche wühlt. Ell zieht einen kreisförmigen Zweig heraus, an dem vereinzelte Blätter hängen. Sie drückt sanft meinen Kopf nach unten und setzt ihn mir in die Haare. Als sie fertig ist, sehe ich wieder in den Spiegel. Meine Locken verdecken den Zweig an den meisten Stellen, doch ab und zu schaut ein Blatt heraus. Es erinnert mich an Halloween, als ich eine ähnliche Krone, bloß in Gold, auf dem Kopf hatte. „Sie ist wunderschön", hauche ich und fasse mir zögerlich an die Haare. „Du siehst aus wie ein Prinz", grinst sie und ich erröte. „Na komm, Billy müsste jeden Moment kommen." Ohne Umschweife packt sie meine Hand und zieht mich mit sich. Ich bin gespannt, was der Abend bringen wird. Angst macht sich in mir breit, als in mir der Gedanke aufkommt, dass ich dort auf ihn treffen könnte. Den Mann, der jeden meiner Gedanken einnimmt.

Beta: hirntote

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