Kapitel 64

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P e r c i v a l

Ich weiß nicht so recht, wie ich gerade reagieren soll, also sehe ich nur mit offenem Mund zwischen Ares und dem älteren Mann hin und her. Dieser Mann ist sein Vater? Ehrlich gesagt habe ich mir nie wirklich Gedanken über seine Eltern gemacht. Irgendwie ging ich davon aus, dass sie bereits verstorben sind oder sich gegen ihn gewandt haben, nachdem Ares Alpha wurde. Der zweite Gedankengang ist gar nicht so abwegig, immerhin sind wir sehr weit weg von zu Hause. Wir haben die Berge, die als Schutz für unser Rudel dienen, hinter uns gelassen und sind immer näher zu den Menschen gefahren. Diese Umgebung ist für mich völlig neu und so spannend es auch ist etwas Neues zu sehen, schließlich habe ich mir das immer gewünscht, macht es mir auch Angst. Meine Augen mustern den älteren Mann vor mir. Er ist sicherlich bereits Mitte fünfzig und seine dunkelbraunen Haare werden an seinen Schläfen schon gräulich. Seine grünen Augen sind geweitet und er sieht Ares völlig überrumpelt an. So wie eigentlich immer sagt Ares' Gesicht kaum etwas aus, jedoch herrscht in seinen Augen ein völliges Durcheinander. Es entsteht in mir das Bedürfnis seine Hand zu nehmen und diese bekräftigend zu drücken, denn auch wenn es nicht so scheint, habe ich innerlich das starke Gefühl, dass ihn dieses Aufeinandertreffen gewiss nicht kalt lässt.
„Schatz? Ist da jemand an der Tür?" Eine weibliche Stimme dringt zu uns vor und ich sehe Ares kurz und eigentlich auch kaum merklich zusammenzucken. „Ja, es...", ruft der Mann zurück, bricht jedoch ab. Er räuspert sich und öffnet die Tür weiter. „Kommt doch erstmal rein, wir wollten gerade essen." Ich sehe fragend zu Ares, doch er scheint wie versteinert. Sanft fasse ich ihn an seinem Arm und sofort zuckt sein Blick zu mir. Meine Augen sehen in seine und es ist erstaunlich, wie schnell der Schleier aus diesen verschwindet und er wieder völlig er selbst zu sein scheint. Bestätigend nickt er dem Mann vor sich zu und wir treten zusammen in das Haus. Es ist mollig warm, sehr angenehm im Gegensatz zu der frostigen Kälte draußen. Wir laufen durch einen langen Flur, der mit seiner beigen Farbe eine angenehme Atmosphäre schenkt. An den Wänden hängen unzählige Fotos, auf denen ich den Mann und eine Frau, sowie zwei Kinder sehen kann. Zwei Jungs, die nicht älter als elf sein können. Der eine hat blonde, lockige Haare und eine schön gebräunte Haut, der andere hat braune Haare, die wild in alle Richtungen stehen. Die Frau neben Ares' Vater ist objektiv betrachtet wirklich hübsch. Sie hat lange blonde Haare und warme braune Augen. Als ich kurz zu Ares schiele, bemerke ich, wie er tunlichst versucht nicht an die Wände zu sehen. Verteilt im Flur stehen Lampen, die ein warmes Licht spenden und als wir in einen großen Wohnbereich treten, sehe ich die zwei Jungs von den Bildern, wie sie quer auf der Couch liegen. Die Anspannung von Ares kann ich bis hierher spüren und sie ist noch um einiges schlimmer als sonst. Ich stelle mich etwas näher zu ihm und hoffe, ihm irgendwie ein guter Beistand zu sein. Der ältere Mann, Ares' Vater, tritt neben uns und kratzt sich etwas überfordert am Kopf. Die Frau mit den blonden Haaren kommt aus einem anderen Raum und trocknet sich die Hände an einem Handtuch ab. „Haben wir Gäste?", fragt sie ihn und sieht zu uns beiden. „Ähm... ja", äußert sich Ares' Vater. „Das ist Ares... mein... Sohn."

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Die ganze Situation ist vielleicht nicht wirklich vorteilhaft und das Entsetzen in den Gesichtern werde ich wohl nie wieder vergessen. Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie Ares die ganze Zeit darüber denkt, was er fühlt oder wie schrecklich das sein muss. Sicherlich weiß ich nicht viel über Ares' Vergangenheit, noch weniger weiß ich, wie das Verhältnis zu seinen Eltern ist, trotzdem sehe ich ihm an, dass ihn das ganz und gar nicht kalt lässt. Wir sitzen mittlerweile in dem Büro von Ares' Vater, der sich mir als Konstantin vorgestellt hat. Seine Frau, sowie seine Kinder sind menschlich, wie ich sofort gerochen habe, als ich vorhin den Raum betrat. Anscheinend muss das Wolfsgen nicht auf die zwei jüngeren Kinder übergegangen sein. „Wie... ähm... wie geht es dir?", fragt Konstantin Ares und irgendwie fühle ich mich hier gerade sehr fehl am Platz. Ich sollte nicht hier sein und den beiden ihre Zeit zu zweit gönnen, doch Ares hat mich ohne Worte, nur mit einer Hand am Rücken, mit sich ins Büro geführt. „Wir sind hier, weil ich deine Hilfe brauche", erklärt ihm Ares, ohne überhaupt auf seine Frage einzugehen. „Wobei?" „Es geht um Percy." Mit einem Kopfnicken deutet er auf mich und nun liegen die Augen des älteren Mannes auf mir. Er mustert mich intensiv. „Du bist ein Omega", stellt er unverblümt fest und runzelt die Stirn. „Ich habe noch nie einen getroffen." Unangenehm winde ich mich etwas unter seinem Blick. „Er ist erst seit ein paar Wochen in meinem Rudel. Aus dem Nichts hat er einfach so Schmerzen bekommen und sie hören nur für eine begrenzte Zeit auf, egal wie oft ich ihn heile. Ich kann ihm nur die Symptome nehmen, doch nicht verhindern, dass sie wieder ausbrechen. Der Rudelarzt und auch die Bücher konnten mir nicht sagen, was mit ihm nicht stimmt. Stand irgendwas über ähnliche Vorfälle in den Büchern, die Ronan vernichtet hat?" Die Art und Weise, wie Ares seinen Vater ansieht, habe ich noch nie an ihm gesehen. Es steckt so viel Leid und Schuld in seinen Augen, dass unweigerlich eine Gänsehaut überall auf mir entsteht. „Du besitzt die Fähigkeit zu heilen?", fragt er ihn. Ares nickt mit angespannten Kiefer. Überlegend streicht der Mann vor uns über seinen Bart und sieht gedankenversunken in die Ferne. „Sind irgendwelche besonderen Ereignisse an diesem Tag passiert?" „Ich bin volljährig geworden!", platzt es stolz aus mir raus. Beide sehen zu mir und die Dominanz, die beide ausstrahlen, lässt mich wieder tiefer in den Sitz sinken. „Ein Gestaltenwandler erlangt an seinem achtzehnten Geburtstag seine vollständigen Kräfte, möglicherweise hat es etwas damit zu tun", meint Konstantin. „Was können wir dagegen tun?" „Es tut mir wirklich leid, doch ich weiß es nicht. An etwas Vergleichbares kann ich mich nicht erinnern." Seufzend atmet Ares aus und streicht sich erschöpft über seine Augen. Besorgt sehe ich ihn an. Er muss völlig fertig sein, nach allem, was in den letzten Tagen passiert ist. Das ganze Heilen, die lange Fahrt, das Auftauchen bei seinem Vater. „Die einzige Möglichkeit wäre, dass ich morgen mal in eins der Bücher schaue, die ich mitgenommen habe. Doch sie liegen in einem Lagerhaus, in das man um diese Uhrzeit nicht mehr reinkommt." Konstantin sieht zwischen uns beiden hin und her. „In Ordnung, wir werden uns etwas zum Übernachten hier in der Nähe suchen", stimmt Ares zu und ist gerade dabei aufzustehen, als Konstantin ihn innehalten lässt. „Aber das ist doch nicht nötig, wir haben ein Gästezimmer und Maria hat gerade essen gemacht. Bleibt doch noch." „Ich denke, das ist wirklich keine gu-..." „Wir bleiben gerne", unterbreche ich Ares einfach mit einem Gefühl aus dem Bauch heraus. Streng sieht Ares zu mir und funkelt mich wütend an, doch ich zucke nur unschuldig mit den Schultern. „Schön, dann stelle ich noch zwei weitere Teller auf den Tisch." Konstantin wollte das Zimmer verlassen, doch er hält nochmal an der Tür inne. „Maria und die Kinder wissen nicht von dieser anderen Seite in mir und ich möchte auch wirklich, dass das so bleibt", sagt er, ehe er Ares ansieht. „Ich habe ihr von dir erzählt. Sie denkt... du bist das Kind aus meiner letzten gescheiterten Ehe", murmelt er. So heftig wie sich Ares dabei verkrampft, vermute ich, dass das nicht ganz der Wahrheit entspricht. Jedoch nickt Ares und Konstantin verlässt den Raum. „Geht's dir gut?", frage ich ihn. „Untergrabe nie wieder meine Autorität und fall mir nicht ins Wort. Wenn ich sage, dass wir woanders übernachten, hast du das zu akzeptieren!" Hart muss ich schlucken. Er schnauft, ehe auch er den Raum verlässt.

Das Essen ist angenehmer als ich gedacht habe. Rory und Will, die zwei Kinder von Konstantin und Maria, sind ziemlich aufgeweckt. Wahrscheinlich ist das mit zehn und neun Jahren auch nicht sonderlich unüblich, doch sie scheinen kaum glauben zu können, dass sie jetzt einen großen Bruder haben. Ares ist reserviert und redet nur, wenn er etwas gefragt wird und dann auch nur in knappen Sätzen. „Und wie habt ihr zwei euch kennengelernt?", fragt mich Maria und sieht mich offen neugierig an. Ich kann sie verstehen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass Ares etwas älter ist als ich und wir völlig verschieden sind. „Auf...", ich sehe kurz zu ihm, der sein Wasserglas hin und her dreht. „Auf einer Veranstaltung", erkläre ich und lüge nicht einmal richtig. „Und ihr seid Freunde?" Nun halte ich inne und kann nicht vermeiden rot zu werden. Ich würde uns wirklich nicht als Freunde bezeichnen. „Wir... sind nicht wirklich Freunde...", murmle ich. „Percy arbeitet für mich", kommt mir Ares zu Hilfe. „Und Percy kann ziemlich anhänglich sein." Empört sehe ich ihn an. „Das stimmt doch gar nicht!" Wütend verwandelt sich meine Röte in ein dunkles, penetrantes Rot. „Wenn du das meinst", er zieht spöttisch eine Augenbraue hoch. Gespielt verletzt schlage ich gegen seinen Oberarm. „Ich bin nicht anhänglich!", schnaufe ich. Ein Schmunzeln entsteht auf seinen Lippen, als er mich ansieht. Ich schüttle nur mit dem Kopf. Wie peinlich, dass er das vor den anderen sagt! Ich bin definitiv nicht anhänglich. Vielleicht ein bisschen. Aber nur ganz, ganz wenig. Als ich wieder aufsehe, blicke ich direkt in das Gesicht von Konstantin. Irgendwie habe ich das Gefühl, Erstaunen in seinen Augen zu sehen und auch Freude.

Als wir fertig gegessen haben, helfen wir noch beim Abräumen. „Ich zeige euch mal das Schlafzimmer. Ihr seht beide sehr müde aus", meint Konstantin. Er hat recht, jetzt wo die Aufregung abklingt, spüre ich, wie die Müdigkeit in Massen über mich fällt. Konstantin führt uns die Treppen hinauf in die zweite Etage und wir laufen an einigen Zimmern vorbei, ehe er vor einer Tür anhält. Das Zimmer ist nicht besonders groß, doch das kleinere Doppelbett sieht unglaublich einladend aus und die warmen Sandfarben bringen mich beinahe dazu, jetzt sofort einzuschlafen. „Das Bad ist zwei Türen weiter. Wir frühstücken nicht sonderlich früh, Rory und Will würden niemals so früh aufstehen." Er schmunzelt kurz, als er an seine Söhne denkt. „Die Couch unten ist noch ausziehbar, dort könnte der andere schlafen." Sofort sehen Ares und ich uns an. „Ich werde auf der Couch schlafen", sagen wir beide gleichzeitig. „Du schläfst hier und ich unten", verdeutliche ich noch einmal. Er schüttelt den Kopf. „Du schläfst hier und ich unten." Verstimmt verschränke ich die Arme. „Du wirst hier schlafen." „Nein du." „Nein." „Doch." „Nein." „Doch." „Nein."
„Wenn ich sage, du schläfst hier, dann schläfst du gefälligst auch hier!", knurrt er und meine Schultern sacken schmollend runter. „Aber-..." „Nein." Unzufrieden entlasse ich die Luft. „Aber du bist der Alpha." „Und du bist krank." Ich verdrehe die Augen. Gerade geht es mir wirklich gut, sehe mich aber dazu gezwungen, ihm zuzustimmen. „Na schön." „Fein", brummt er. Kurz liefern wir uns noch ein Blickduell, ehe ich endgültig aufgebe und weiter in den Raum gehe. „Nun, wenn das jetzt geklärt ist, würde ich dir ein paar Schlafsachen von meinem Sohn geb-...", wollte Konstantin anbieten, doch Ares unterbricht ihn. „Nicht nötig, ich habe unsere Sachen im Auto", damit dreht er sich auch schon um und geht wieder nach unten.
„War er schon immer so?", frage ich den älteren Mann neben mir und sehe dem breiten Rücken hinterher. „Er hat sich verändert", murmelt der Mann. „Ich habe ihn noch nie lächeln gesehen. Nicht so, wie wenn er dich ansieht."

Beta: hirntote

Black DepthsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt