Kapitel 38

5.7K 333 9
                                    

P e r c i v a l

Unsicher sehe ich zu diesem großen Tisch, wo sich noch mehr unbekannte Gesichter dazugesellen. Das Esszimmer ist größer als ich dachte und eine Fensterfront ermöglicht einen schönen Blick in den Wald, wodurch alles moderner wirkt. Ein großer, imposanter Kronleuchter hängt über dem Esstisch und spendet ausreichend Licht, sodass es immer noch gemütlich ist. Musik dringt in sanften Klängen von irgendwoher und gibt dem ganzen eine familiäre Stimmung. Ich habe überhaupt nicht mitbekommen, dass plötzlich all diese Leute in das Haus gekommen sind. Habe ich wirklich so tief geschlafen, in einem fremden Rudel? Sowas ist für uns eigentlich kaum, bis gar nicht möglich. Wildes Treiben entsteht am Tisch und es werden riesige Salatschüsseln umhergereicht, sowie Schalen mit Brot. Dieser riesige Fleischhaufen in der Mitte ist kaum zu übersehen und wie sich alle auf diese Massen stürzen, gleicht einem Massaker. Ist es so, mit so vielen dominanten Wölfen zu essen? Die einzige vergleichbare Ansammlung, die ich beim Essen je gesehen habe, war in der Schule, sonst gab es meistens nur meinen Dad und mich. Ein stechender Schmerz durchzieht mich, als mir diese kleinen Erinnerungen in den Sinn kommen. Die Wärme in dem Raum und der Zusammenhalt ist beinahe greifbar, genauso, wie sie sich alle wirklich angeregt unterhalten. Irgendwie hatte ich erwartet, dass mit dem Alpha an der Spitze, der anscheinend wartet, bis alle am Esstisch sitzen, ein stilles Schweigen herrschen würde und die Spannung greifbar wäre. Doch so ist es nicht, im Gegenteil, die Atmosphäre ist ausgelassen. Wenige neue Gesichter sitzen auf der gegenüberliegenden Seite der sechs, die ich bereits kennenlernen durfte. Unwohl reibe ich mir über den Arm und weiß nicht, wo ich mich am besten hinsetzen soll. „Da seid ihr ja!", rufen plötzlich die Zwillinge aus und sprechen anscheinend jemanden hinter mir an. Ein Mädchen mit schneeweißen Haaren betritt zusammen mit einem etwas größeren Jungen mit feuerroten Locken den Raum. Der Arm des Rothaarigen ist um das Mädchen geschlungen und so wie sie sich an ihn schmiegt, scheinen die beiden eine innige Bindung zu besitzen. Als sie an mir vorbeigehen, sehen sie mich kurz prüfend an, wenden ihren Blick dann aber desinteressiert ab und gehen zu ihren Plätzen. Langsam suche ich mir auch eine Sitzgelegenheit, denn ewig wie ein Idiot herumstehen, wollte ich auch nicht. Mein Inneres treibt mich voran, an die Spitze, wo Ares sitzt. Sein Gesicht ist angespannt, hart und sein Blick wirkt kühl. Nichts neues für mich und ich frage mich zum wiederholten Male, was er wohl denkt. Neben ihm ist ein Stuhl am Tisch frei, auf den ich zusteuere. Als ich mich jedoch auf den Platz niederlasse, halten viele beim Essen inne und sofort spüre auch ich seinen Blick auf mir. „Das ist der Platz der Luna", weist mich Conner strafend darauf hin, der neben mir sitzt. Die Luna, die Frau des Alphas, seine zweite Hälfte und die aus den Geschichtsbüchern benannte Mondgöttin des Rudels. Schon Jahre habe ich diese Bezeichnung nicht mehr gehört. Seit dem Tod unserer Luna ist es ein stilles Gesetz, nicht darüber zu reden. Keiner wollte die Trauer in unserem Alpha erneut aufreißen und bei ihm die Wut darüber wecken, dass er sie nicht retten konnte. Durch meinen Vater weiß ich, dass er oft meinte, dass es seine Schuld wäre, dass er sie hätte schützen sollen und dass es einfach beschämend sei, wenn man zwei gesunde Werwölfe verliert, an so etwas Lächerliches wie einen Autounfall. Meine Wangen laufen rot an und zu meiner eh schon leicht erhöhten Temperatur gesellt sich der Scham der unangenehmen Situation dazu und es fühlt sich an, als würde ich verglühen. „Schon gut Conner, ich kann auch heute mal woanders sitzen", meint Ares' Verlobte, die plötzlich den Raum betritt und eine weitere Schale Salat bringt. Ihre Ausstrahlung ist einnehmend und instinktiv habe ich das Bedürfnis, mich ihr zu ergeben, denn sie ist die Luna. Sie ist, neben dem Alpha und dem Beta, die höchste Macht im Rudel. Ihre Schönheit ist unbestreitbar und die Eleganz, mit der sie sich bewegt, ist einschüchternd. Auch Ezekiel, der Beta, betritt den Raum und sieht ziemlich mies gelaunt aus. Er setzt sich wie selbstverständlich neben Ares, wahrscheinlich, weil es ganz einfach sein Stammplatz ist und befindet sich nun mir gegenüber. Durch die Situation fühle ich mich mehr als unwohl. „Nein, das ist okay, ich kann ruhig woanders hi-...", will ich einlenken, als die Luna im Begriff ist, sich woanders hinzusetzen, denn als Omega steht es mir niemals im Leben zu, den Platz einer führenden Person einzunehmen. Selbst der Stammplatz eines Betas ist ein Risiko. Die Instinkte verlangen es und vor allem mein Bedürfnis, bei niemandem in Ungnade zu fallen. „Setz dich!", knurrt Ares jedoch plötzlich zu mir und ich zucke zusammen und setze mich schnell wieder richtig hin. Kurz scheinen einige etwas überrascht, doch anscheinend ist der Hunger der Anwesenden viel wichtiger als diese Formalität. Auf meiner gegenüberliegenden Seite sitzen weitere drei Männer, deren Namen ich nicht kenne, sie unterscheiden sich sehr stark von denen, die ich zuvor an der Couch angetroffen habe. Die drei Männer sehen älter aus und wirken nicht wie Wächter, die noch in der Ausbildung sind. „Das sind die Wächter, die vor einer Stunde ihre Schicht beendet haben. Ab und zu essen sie bei uns mit, wenn auf sie zu Hause keine Familie wartet, um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken", raunt mir Conner erklärend zu, als er anscheinend meinen Blick in ihre Richtung bemerkt hat. Verstehend nicke ich.
Es vergeht einige Zeit und mein Teller ist noch immer leer. Der Drang in mir etwas zu essen; Nahrung aufzunehmen, die mein Körper für die Energie benötigt, ist nicht vorhanden, nicht seit Sonntag. Ich weiß gar nicht, wann ich zuletzt etwas gegessen habe. Vage erinnere ich mich, dass mir Em ein Brot geschmiert hat, an diesem schrecklichen Abend und nur ihr zuliebe habe ich ein bis zwei Bisse genommen. Aber alleine der Gedanke, etwas zu essen, lässt Übelkeit in mir aufkommen. Trotzdem ist mir bewusst, dass ich was zu mir nehmen sollte. „Du kannst den Salat essen, wenn du das Fleisch nicht magst", spricht mich Ares an und sieht zu mir. Er selbst hat nichts auf seinem Teller, lediglich ein Glas Wasser steht vor ihm. „Ich habe keinen Hunger", murmle ich und sehe zu dem reich gedeckten Tisch. Sein Blick ist prüfend und anhand wie er seine Hand ballt, schließe ich seine Missbilligung daraus, doch er erwidert darauf nichts mehr. Schließlich entscheide ich mich dazu ein Stück trockenes Brot zu essen, denn irgendwas in mir will ihn zufrieden stimmen. Auch er beginnt dann zu essen, vielleicht nicht so wild und gierig wie die anderen, aber auch er isst für einen Alpha nicht untypisch viel. Irgendwie ist es surreal ihn so zu sehen, an einem Tisch mit diesen unbekannten Leuten und ihn dabei zu beobachten, wie er ein Stück perfekt gegartes Fleisch isst. Wie kann es sein, dass das auf eine verstörende Art und Weise attraktiv ist? Wie er die Gabel zu seinem Mund führt, sich seine perfekten Lippen um die Gabel schließen oder er mit der Hand das Wasserglas umgreift, so dass automatisch die Adern an seinem Arm hervortreten. Seine Muskeln spannen sich bei dieser Tätigkeit an und ich muss hart schlucken. Das Ziehen in meiner Leistengegend ist fremd und doch bekannt. Bekannt in anderen Situationen, doch nicht in dieser, nicht hier und nicht vor all diesen fremden Personen. Sein Blick zuckt zu mir und erschüttert mich, trifft mich wie ein Blitz und ich muss ein Beben unterdrücken. Alleine anhand seiner Augen, bemerke ich, dass er weiß, was in mir vorgeht. Das wiederum lässt mich meinen Blick senken und die Röte breitet sich unkontrolliert über mir aus. Das Brot scheint kein Ende in meinem Mund zu finden und schmeckt irgendwie nach nichts. Doch ich denke nicht, dass das am Brot liegt, viel eher an mir und meinem Gefühlsstand. Vielleicht ist es gut wieder heimzukehren, mich nicht mit diesen verwirrenden Gedanken konfrontieren zu müssen und wieder ein Leben ohne Ares Cartwright zu führen. Mit einem Mal erschüttert mich ein Unwohlsein, bei dem Gedanken, was ich kaum zu beschreiben vermag. Alles in mir sträubt sich dagegen und es ist, als würde ich mich innerlich gegen diesen Gedanken auflehnen und nicht akzeptieren hier wegzugehen, weg von ihm.

Black DepthsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt