P e r c i v a l
„Es ist wirklich kalt draußen", meine ich zu Ell und reibe mir meine Arme. Wir verbringen den restlichen Nachmittag zusammen und laufen auf dem Gelände umher, während sie mir Dinge aus ihrem Buch erzählt, was sie zurzeit liest. „Nun, der Herbst schließt seine Tore für den Winter." Schmunzelnd sehe ich zu ihr. „Was?", sie runzelt die Stirn. „Die Tore? So redest du doch sonst nicht." Schulterzuckend sieht sie zum Wald, in dem die Bäume rascheln und den Wind einschleusen. „Mein Dad hat das früher immer gesagt." Oh. Ich weiß nicht, wie ich mich bei diesem Thema ihr gegenüber verhalten soll. Ich habe selbst ein Elternteil verloren, doch meine Mutter hat uns verlassen und Ells Dad ist gestorben. Der Umstand, dass sie darüber nicht sehr traurig erscheint, verunsichert mich nur noch mehr. Ich würde gerne mehr über sie erfahren, um ihr zu helfen, doch es ist schwierig aus ihr schlau zu werden. Was das angeht, ist sie Ares irgendwie sehr ähnlich. Sie ist sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, Persönliches von sich preiszugeben. Ich möchte sie nicht drängen über dieses Thema zu reden, auch wenn es mich brennend interessieren würde. Doch meine Neugier jetzt zuzulassen, wäre unangebracht und dafür mag ich sie zu sehr. „Also...", beginne ich ein neues Thema. „Wie viele Jahre ist Ares eigentlich schon Alpha?" Sofort zuckt ihr Blick zu mir. „Du solltest darauf aufpassen, ihn niemals beim Vornamen zu nennen, wenn er in deiner Nähe ist!", ermahnt sie mich und ihr ernster Blick lässt mich schlucken. „Wieso?" Mal davon abgesehen, dass ich ihn schon viel zu oft geduzt habe, als dass ich jetzt noch glauben würde, dass etwas Schlimmes daraufhin passiert, interessiert es mich, warum sie so denkt. „Hat er das so angeordnet?", hänge ich noch an und sehe fragend zu ihr. „Nein... Also ja... Na ja...", sie verschränkt abwehrend die Arme vor ihrer Brust. „Bei uns Blacks ist das ein ungeschriebenes Gesetz. Ich mein, sprecht ihr denn bei euch Autoritätspersonen mit Vornamen an?" „Nein...", antworte ich, denn es ist selbstverständlich nicht so. Lehrer sprechen wir nicht mit Vornamen an, wenn sie es uns denn nicht explizit erlauben. Doch unser Alpha hat nicht verboten, ihn mit Vornamen anzusprechen. „Siehst du. Und der Alpha ist auch noch eine viel höhere Autorität, würdest du ihn mit Vornamen ansprechen, würde das bedeuten, dass du seine Autorität untergräbst", erklärt sie. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass er deswegen so streng sein würde", überlege ich laut. „Es versucht erst keiner, deswegen wurde das auch nie in Frage gestellt", antwortet sie und scheint selbst in Gedanken zu sein. Ich denke nicht, dass Ares ein Teddybär zum Kuscheln ist, doch ich denke, dass viele ihn hier strenger sehen als er eigentlich ist, nur weil sie nie etwas in Frage stellen oder sich trauen ihre Stimme zu erheben, um etwas zu ändern. In der gleichen Situation befanden wir uns schon mal, als Ell mich heftig gewarnt hat, meine Sexualität nicht zu sehr zur Schau zu stellen und im Endeffekt hat er nicht einmal einen Tag später versichert, dass das kein Problem darstelle. Vielleicht ist Ares gar nicht so wie man sich erzählt. Jedenfalls nicht im Inneren. Es erschreckt mich selbst, wie ich mittlerweile über jemanden denke, der mir eigentlich völlig fremd ist. Wie konnte es nur passieren, dass ich so viel Sympathie für einen Alpha hege, der nicht meiner ist? „Na ja, wie auch immer, um auf deine Frage zurückzukommen: Ares ist seit einigen Jahren Alpha. Ich war damals fünf, als er Alpha wurde." „Wow, dann muss er ja schon viel älter sein als ich gedacht habe", denke ich schon wieder laut. „Er ist, glaube ich, dreiunddreißig, aber sicher bin ich mir auch nicht. Ich weiß nur, dass er damals zwanzig war und mittlerweile bin ich achtzehn, also würde das Sinn ergeben", überlegt sie. „Bei uns wird der Geburtstag unseres Alphas immer groß gefeiert..." „Nein, Ares ist einer der stillen Sorte. War er schon immer. Ich weiß nicht viel aus seiner Jugend, geschweige denn Kindheit, dafür war ich zu jung, doch es wird sich erzählt, dass er nicht sonderlich beliebt war. Auf den Mannschaftsfotos ist er auch nirgendwo zu sehen und nur bei wenigen Klassenfotos. Keiner weiß, wann er genau Geburtstag hat oder weiß generell viel über ihn. Sein Beta ist wohl das, was einem Freund am nächsten kommt, doch selbst die beiden werden nicht sonderlich oft zusammen gesehen", erzählt sie und ich sauge die Informationen wie ein staubtrockener, nach Wasser lechzender Schwamm auf. „Ich würde aber nicht sagen, dass er ein... schlechter Alpha ist", hängt sie noch leise mit an. Überrascht sehe ich zu ihr. „Die Art, wie er Alpha geworden ist, bedeckt all das Gute, was er eigentlich für uns getan hat. Seit er unser Alpha ist, hat sich unser Leben um ein Vielfaches verbessert und wir leben mit der Sicherheit beschützt zu werden, von jemanden, der sich für jeden einzelnen seiner Rudelmitglieder interessiert. Davor war ein großer Schatten über unser Rudel, auch wenn das vielleicht nicht jeder so sieht, doch der Alpha davor war kein guter Mann und glaube mir, ich weiß es sehr genau", murmelt sie den Rest. Sie müsste fünf gewesen sein, als er gestorben ist, wie kann sie das noch so genau wissen? Doch anhand ihrer Tonlage merke ich, dass es kein Thema ist, worüber sie gerne redet, umso mehr bin ich ihr dankbar, dass sie so ehrlich zu mir ist. „Du meintest, es gibt Schulfotos von damals, zeigst du sie mir?", frage ich sie und bemerke zu meinem Leidwesen, wie aufgeregt ich bei dem Gedanken werde, ein Bild von dem jungen Ares zu sehen. „Ist nichts Besonderes, aber wenn du willst", irgendwie schmunzelt sie mich mit diesem zweideutigen Blick an, der mir Angst macht. Zusammen gehen wir den Weg wieder zu der Haupteingangshalle zurück und ich genieße die Wärme, die mir entgegenkommt, da es dann doch ein merklicher Temperaturunterschied ist. Wärmend stülpe ich meine Strickjacke über meine kühlen Hände und reibe sie aneinander. Sie führt mich durch einige Flure, nicht weit weg von der Aula und wird langsamer, als wir zu dem Schrank mit all diesen Trophäen kommen. Viele Bilder hängen an den Wänden, die ich zuvor nie richtig wahrgenommen habe. Suchend gleiten ihre Augen über die verschiedenen Jahreszahlen, bis sie ziemlich weit hinten anhält und ein „Ha!" ausstößt. Mit dem Finger deutet sie auf einen Jungen, weit hinten, rechts außerhalb des Bildes. Plötzlich fängt mein Herz an wie wild zu schlagen, Adrenalin jagt durch meine Adern und es fällt mir schwer, normal zu atmen. Dieser Junge, ich habe ihn schon mal gesehen. Schnell komme ich noch näher, um ihn mit großen, geschockten Augen in Augenschein zu nehmen. Sein Gesicht wirkt teilnahmslos, gelangweilt und irgendwie traurig... Er ist nicht besonders groß und mir erscheint seine Ausstrahlung eher zurückhaltend, düster und... verschlossen. Seine schwarzen Haare hängen ihm im Gesicht, verdecken beinahe seine schönen, selbst auf dem verblassten Foto, glänzenden Augen. Schwarz war wohl schon damals seine Lieblingsfarbe, denn nicht ein heller Ton ist an ihm zu sehen. Nur seine Haut ist weiß wie Schnee. Es ist kaum ein Vergleich zu heute und beinahe alles an ihm wirkt anders. Schon damals war er ein absoluter Blickfang, zwar nicht kräftig und groß, aber trotzdem hatte er etwas an sich, was ihn einzigartig macht. Es erstaunt mich, dass es so scheint, als würde er von seiner Klasse ausgegrenzt sein, wie er dort so steht, alleine. Mein schnell schlagendes Herz verkrampft sich vor Sorge - ihn dort auf dem Foto zu sehen, während ich das Bild des Junges, den ich gesehen habe, als ich Ares berührte, vor Augen habe, bringt mir die Erkenntnis. Der Junge war er? Der Junge, der so unglaublich gelitten hat, alleine, traurig und voller Angst war? Was ist ihm nur widerfahren?
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„Und was machst du jetzt noch so?", fragt mich Ell, nachdem wir vom Abendessen kommen. Ich deute den Gang runter zur Bibliothek. „Ich werde in der Bibliothek ein bisschen für meinen Aufsatz recherchieren." „In der Bibliothek?", kichert sie. Fragend sehe ich zu ihr. „Ja?" „Okay, na dann viel Spaß", sie zwinkert und ich runzle darauf nur verwirrt mit der Stirn. Ich schultere meine Tasche, in der ich all mein Schreibzeug habe und mache mich auf den Weg in die Bibliothek. Ell hat sie mir mal nebenbei irgendwann gezeigt und seitdem habe ich es nicht mehr geschafft dort vorbeizuschauen. Sie ist genauso erstaunlich schön und alt wie das ganze Schloss. Riesig und voller Geschichte. Ihre Regale reichen bis zu den Decken und um bis hoch zu gelangen, lehnen verschiebbare Leitern an ihnen. Diese Bibliothek könnte einem historischen Buch entsprungen sein, mit ihren hohen Torbogen an der Decke und den alten, einzigartig angefertigten Fensterscheiben. Als ich die Bibliothek betrete, erwartet mich ein kleiner Junge. „Hi", sagt er ganz aufgeregt. „Äh... Hey?", verwirrt sehe ich zu ihm. Er kann nicht älter als sechs sein. „Und du leitest das ganze?", frage ich spielerisch und lächle ihm zu. Sofort beginnt er zu kichern. „Nein, natürlich nicht. Wie heißt du?", fragt er mich und lehnt sich über den hohen Tresen. Er muss wohl dahinter auf einem Schreibtisch sitzen. „Percival und du?" Seine Wangen fangen an rot zu glühen, beinahe so rot wie seine Haare, und seine Sommersprossen treten dadurch noch viel mehr hervor. „Ich bin Elio", er grinst breit, wodurch seine vielen Zahnlücken zum Vorschein kommen. „Freut mich dich kennenzulernen", ich halte ihm meine Hand hin, die er erst mit großen Augen betrachtet, ehe er sie mit seinen kleinen Händchen ergreift. Plötzlich kommt Gepolter aus dem Raum hinter ihm und ein großer, dünner Mann mit feuerroten Haaren und einer großen Hornbrille kommt zum Vorschein. „Oh, tut mir leid! Hat er irgendwelchen Unfug angestellt?", fragt mich der Mann sofort besorgt und stellt eilig die Kiste ab, um zu uns zu kommen. „Oh, nein, ganz im Gegenteil", breit lächle ich zu dem Jungen und zwinkere ihm zu. Wieder erklingt ein Kichern von ihm, was mein Herz höher schlagen lässt. „Sie wollen in die Bibliothek?", fragt er mich dann wieder beruhigter und lächelt kurz zu dem Jungen hinab, der sehr offensichtlich sein Sohn sein muss, der gerade an den Knöpfen seines Hemdes rumfummelt. „Ja. Ja, genau." „Sie kennen das Prinzip?", fragt er mich und kramt schon aus den Unterlagen ein Klemmbrett. „Nein, nicht genau." „Nun, ich trage Sie jetzt in die Liste ein und, wenn Sie wieder gehen, müssen Sie sich hier abmelden, damit ich Sie austrage. Bücher dürfen Sie nicht mitnehmen, doch haben Sie zum Lesen so viel Zeit wie Sie wollen", er lächelt mich warm an, ehe er mich nach meinem Namen fragt. „Ähm Percival Dawn", gerade als er schreiben wollte, hält er inne und sieht überrascht zu mir auf. Als ich fragen wollte, ob etwas nicht stimmt, schüttelt er den Kopf und kehrt zu seinem freundlichen Gesicht zurück, während er meinen Namen einträgt. „Okay, das war's, haben Sie viel Spaß und behandeln Sie die Bücher als wären sie Ihr Allerheiligstes." Schmunzelnd nicke ich mit dem Kopf. Ich winke dem kleinen Jungen nochmals, der die Geste erfreut erwidert.
Suchend sehe ich mich nach einem gemütlichen Platz um und laufe immer weiter, bis ich beinahe bis hinten ankomme und zwischen den Bücherregalen einen großen Schreibtisch mit mehreren Stühlen entdecke. Zufrieden stelle ich mein Zeug ab, ehe ich mich auf die Suche nach den passenden Büchern mache.~
Ich bin schon eine ganze Zeit hier und habe mittlerweile auch völlig die Zeit aus den Augen verloren. Viele Bücher liegen vor mir verstreut, die ich erst gar nicht gefunden habe, ehe ich den Mann vorne, der sich als Ezra Hathaway rausstellte, um Hilfe gebeten habe. Wir hatten ein ziemlich angeregtes Gespräch über die verschiedenen Bücher geführt, dass er mir sogar das ‚Du' angeboten hat. Es ist schon spät und mein lautes Gähnen zeigt mir, dass ich langsam in mein Zimmer gehen sollte. Tatsächlich konnte ich viele Strichpunkte zusammentragen, die ich noch sortieren und filtern muss, ehe ich mit dem richtigen Aufsatz beginne. Gerade als ich alles in meine Tasche packen will, höre ich ein leises Keuchen. Sofort halte ich inne, denn es war sogar für meine Wolfsohren kaum zu vernehmen. Ich schüttle mit dem Kopf, als es nicht noch einmal auftritt und packe weiter zusammen, als es plötzlich wieder erklingt. Neugierig lasse ich von der Tasche ab und gehe langsam wieder zum Hauptgang und erblicke Ezra, der an seinem Schreibtisch eingeschlafen ist, doch sein Sohn ist schon längst nicht mehr bei ihm. Wahrscheinlich liegt er bereits im Bett. Leise folge ich den Geräuschen, die nur sporadisch und auch nur ganz leise auftreten. Ich gehe immer weiter hinter in die Bibliothek, so dass das Geräusch lauter wird und die Beleuchtung schwächer. Als ich um das letzte Bücherregal herumschleiche, sehe ich jemanden auf dem Boden, gegen ein Regal lehnen. Bücher sind um ihn herum verstreut, während er schmerzerfüllt seinen Arm hält. Schwarze Adern ziehen sich hinauf. Der Mann vor mir ist kein Geringerer als Ares Cartwright.
Beta: hirntote
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Black Depths
Romance~ Black Depths ~ Ich hatte mir immer vorgestellt, dass mein Leben friedlich und nach meinen Wünschen ablaufen wird. Schon von klein an, wurde ich nicht so akzeptiert, wie ich im Herzen bin. Es war okay, ich lernte damit zu leben, da ich dachte, irge...