Kapitel 26

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Am Montag schreiben wir eine Klausur und dank Taylors Nachhilfe habe ich gar kein schlechtes Gefühl dabei. Ich sehe, dass sie nach der Stunde zu mir kommen will, jedoch von Lea aufgehalten wird. Also gehe ich zu Anna und wir gehen raus. „Lars hat gefragt, ob ich am Wochenende zu ihm fahren möchte. Willst du mit? Wir könnten feiern gehen, ein bisschen die Großstadt erleben." Es fällt mir schwer, Anna etwas abzuschlagen, wenn sie so begeistert klingt. Sie merkt, dass ich unschlüssig bin und schiebt hinterher: „Du kannst auch Taylor mitnehmen." Ich werfe ihr sofort einen kritischen Blick zu, doch sie schmunzelt: „Vor mir musst du nicht auf hart machen." Ich seufze und verdrehe die Augen, obwohl sie wohl Recht hat. „Ich muss zuhause fragen", murmele ich und Anna gibt sich damit zufrieden. Später beim Boxen schlage ich wie wild auf den Sack ein, weil ich genau weiß, dass ich nirgends hinfahren kann. Ich kann meinen Bruder nicht allein bei meinem Vater lassen und ihn ganz sicher nicht mitnehmen. Natürlich hätte ich Lust, mit Anna einen drauf zu machen und ich finde es schön, dass sie Taylor eine Chance geben will. Wieso kann ich nicht auch einmal etwas für mich machen?

Nach dem Training setze ich mich in den Bus und stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren. Ich spüre, wie sich jemand zu mir setzt und der Duft nach Flieder bestätigt, dass es Taylor ist. Ich will sie eigentlich nicht ignorieren, aber ich weiß, dass ich gerade nicht im Stande zu einer Unterhaltung bin. Entweder würde ich sie blöd anmachen oder anfangen zu weinen und beides ist keine Option. Also sehe ich weiter aus dem Fenster und konzentriere mich auf die Musik. Nach einigen Sekunden spüre ich, wie Taylor ihre Hand auf meine legt. Mein Hals schnürt sich zu bei dieser Geste und wie von selbst verschränke ich meine Finger fest mit ihren. Es ist komisch, jemanden zu haben, der mich in diesen Momenten unterstützt. Dieses Gefühl kenne ich nicht und es ergreift mein Herz mit voller Wucht. Ich schlucke, um die Tränen zurückzudrängen und bin gleichzeitig traurig und froh, als die Busfahrt endet.

Mein Vater ist zuhause und hat eindeutig wieder Alkohol zu sich genommen. Er sitzt in meinem Zimmer und betrachtet das Bild meiner Mutter. „Raus aus meinem Zimmer", sage ich mit Nachdruck, weil es mich echt sauer macht. Mein Zimmer ist der einzige Ort, der mir heilig ist und ich habe echt keine Lust, dass es hier nach Alkohol stinkt. „Sie hat es nicht verdient, hier zu stehen", lallt mein Vater und greift nach dem Bild. Sofort spanne ich mich an und sage: „Stell es wieder hin." Tränen stehen in den Augen meines Dads und ich sehe genau, wie sehr ihn der Anblick meiner Mutter schmerzt. „Ihr solltet zu ihr ziehen und bei ihr leben", murmelt er und schmeißt das Bild auf mein Bett. Ich greife an sein Hemd und rüttele an ihm: „Papa, wach endlich auf. Sie will uns nicht. Wir haben sie verloren, aber wir haben noch uns." Tränen schießen in meine Augen, als ich in die milchigen Augen meines Vaters blicke. „Du hast einen wundervollen Sohn und wirst seine ganze Kindheit verpassen, wenn du weiter deinen Frust ersäufst." Kurz sehe ich, dass meine Worte meinen Vater erreichen, doch der Moment geht schnell vorbei. „Du siehst ihr immer ähnlicher", sagt er frustriert und schiebt mich dann von sich weg. Er trottet an mir vorbei in Richtung Küche und ich stelle das Bild meiner Mutter wieder auf den Nachttisch. Dann sehe ich auf meine Uhr und mache mich schnell auf den Weg zum Kindergarten.

Noah wurde von einem Freund eingeladen, mit seiner Familie Pizza essen zu gehen. Das kommt mir mehr als gelegen und ich freue mich, dass er mal etwas Spaß hat. „Wir bringen ihn nach Hause, er kann aber auch gerne bei uns übernachten", erklärt mir die freundliche Mutter des Jungens. Ich hole Noah zu mir und wir gehen einige Meter von den andere weg. Dann hocke ich mich zu ihm und frage: „Willst du gerne bei ihnen übernachten?" Er nickt sofort eifrig und ich muss lächeln. „Okay, aber du benimmst dich und du kennst die Regel." Er nickt und wiederholt brav: „Die anderen verstehen nicht, was Papa durchmacht. Wir sind nicht anders, sondern besonders." Ich grinse, nicke und halte ihm meine Hand hin. Wir haben unseren eigenen kleinen Handschlag, den Noah mittlerweile im Schlaf kann. Früher hatte er echte Schwierigkeiten, sich Abfolgen zu merken, doch mittlerweile klappt es super. „Viel Spaß, Großer", sage ich und gebe meinem Bruder einen Kuss auf seine Stirn. Er läuft aufgeregt zu seinem Freund und ich rede noch kurz mit der Mutter. Sie wirkt wie eine dieser überfürsorglichen Mütter, die alles für ihr Kind tun würden. Sie macht mich auf gewisse Weise echt sauer, aber ich weiß innerlich, dass sie nichts für meine Wut kann. Als ich durch die Straßen gehe, betrachte ich mein Spiegelbild in einem Schaufenster. Mein Vater hat Recht, ich sehe ihr immer ähnlicher. Es sind ihre verfluchten Haare, die sie uns vererbt hat. Sie ist der einzige Grund, warum mein Leben so scheiße ist. Der Grund dafür, dass mein Vater ein Alkoholiker ist und ich Aggressionsprobleme habe. Der Grund dafür, dass Noah nie ein normales Leben haben wird, egal wie viel Mühe ich mir gebe. Wir werden immer komische Blicke abbekommen, während meine Mutter am anderen Ende der Welt ihren Spaß hat. Wut kommt in mir auf und ich würde mir am liebsten meine Haare ausreißen. Wütend laufe ich durch die Straßen, bis ich vor einem Laden stehenbleibe und plötzlich genau weiß, was ich tun muss.

POV Taylor

Abends sitze ich mit meinen Eltern im Wohnzimmer und schaue eine Dokumentation. Ich schreibe hin und wieder mit Sam und bin auf Instagram unterwegs. Ich bereue es, dass ich Mila immer noch nicht nach ihrer Nummer gefragt habe. Sie hat heute im Bus völlig fertig gewirkt und ich hätte ihr gerne geholfen. Ich weiß noch immer nicht, wie nah ich ihr treten darf. Sie ist mir noch immer ein Rätsel, doch ich kann nicht aufhören an sie zu denken. Am liebsten würde ich sofort zu ihr laufen, doch ich muss besser aufpassen. Ich mustere meine Eltern von der Seite und greife dann nach dem Anhänger an meinem Hals. Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich diese Gefühle in mir trage? „Alles in Ordnung, Liebling?", fragt meine Mutter und mustert mich besorgt. Ich täusche ein Lächeln vor und nicke: „Ich bin nur müde vom Tanzen." Sie erwidert mein Lächeln und konzentriert sich dann wieder auf den Fernseher.

Wann wird mein Kopf bloß mal ruhig sein?

My own heavenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt