Kapitel 62

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Noah durchkramt seine Sachen und ich helfe ihm, das Nötigste einzupacken, um einige Tage bei meiner Tante zu wohnen. Die Wohnung wirkt noch weniger einladend als sonst, die Küche wurde wohl so hinterlassen, wie sie heute Morgen aussah. Am Küchenschrank klebt Blut und auf den Fliesen am Boden ist ebenfalls rote Flüssigkeit. Ich schlucke und versuche mir nicht vorzustellen, welche Schmerzen Mila gehabt haben muss. Ich wünschte, ich hätte sie nicht allein gelassen, vielleicht wäre ich dann hier gewesen. Vielleicht hätte ich Noah wegbringen können und es wäre nicht eskaliert. Ich denke zwar, dass Mila ihren Vater nicht anzeigen wird, doch vorsichtshalber lasse ich alles so, wie ich es vorgefunden habe. Noah ist schnell fertig und er läuft die Treppen herunter zur Straße, wo meine Tante bereits auf ihn wartet. Ich betrete Milas Zimmer und sofort schleichen sich Erinnerungen in meinen Kopf. Der Raum trägt ihren Geruch und jeder einzelne Gegenstand erinnert mich an sie. Es tut weh, hier zu sein und um sie bangen zu müssen. Schnell öffne ich einige Schubladen ihres Schreibtisches und versuche, irgendetwas von ihrer Mutter zu finden. Ich muss herausfinden, wo sie wohnt, um sie zu kontaktieren. Ich hoffe wirklich sehr, dass Mila irgendeine Adresse oder etwas ähnliches von ihr besitzt. Stattdessen fällt mir ein kleines Bild in die Hände. Es liegt zwischen einigen Schulheften und bringt mich leicht zum Lächeln. Es zeigt uns beide zusammen auf dem Aussichtsturm bei meiner Tante. Kurz zuvor hatte sie mich gefragt, ob ich ihre Freundin sein will. Es ist leicht zerknickt, so als hätte Mila es öfter bei sich getragen. Ich seufze und schiebe es kurzerhand in meine Jackentasche, ich kann etwas Hoffnung gebrauchen. Wenn ich sie schon wieder verlassen muss, soll wenigstens ihr Bild bei mir sein. Es tut mir genug weh, dass ich kein einziges Foto mehr habe, weil sie alle auf meinem alten Handy sind. Verzweifelt ziehe ich jedes Buch aus dem Regal, doch es ist zwecklos, kein Zeichen von Milas Mutter. Seufzend lasse ich mich auf ihr Bett sinken und streiche über die weiche Decke. Sie liegt so da, als hätte sie gerade erst jemand aufgeschlagen. Heute Morgen lag Mila noch darin und hat seelenruhig geschlafen. Ich wünschte, sie wäre jetzt hier und ich müsste mir keine Gedanken um ihre Gesundheit machen. Als ich aufstehe und gehen will, fällt mein Blick auf den Nachttisch und mir fällt auf, dass das Bild auf der Vorderseite liegt. Ich nehme es in meine Hand und betrachte die Frau darauf. Mila ist ihr wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten und hat genau die gleichen dunklen, schönen Haare. Ich streiche über den Rücken des Rahmens und öffne dabei aus Versehen die Rückseite. Als ich es umdrehe, um es wieder zu verschließen, erkenne ich einen Schriftzug auf der Rückseite des Fotos. Schnell nehme ich es aus dem Rahmen und lese: Isabella Rose Fellini. Schnell mache ich ein Foto von dem Schriftzug und verlasse die Wohnung. Es ist Zeit, auf die Suche zu gehen.

POV Mila

Meine Lider lassen sich nur schwer öffnen und sofort blendet mich das Licht durch die großen Fenster. Wo bin ich und was ist passiert? Das erste, was ich spüre, ist ein dumpfer Schmerz in meinem Kopf und ein Brennen in meinem Bauch. Ich sehe an mir herab und erkenne viele Schläuche und einen Tropf an meinem Arm. Als ich blinzele, gewöhnen sich meine Augen langsam an das Licht. Ich stöhne leicht auf und sofort bewegt sich etwas vor mir. „Oh mein Gott, du bist wach", höre ich eine Stimme sagen und identifiziere sie als Annas. Ich spüre ihre warme Hand in meiner, schaffe es jedoch nicht, sie anzusehen. Ich fühle mich unendlich schwach, warum bin ich im Krankenhaus. Ich will fragen, wie es Noah geht, doch bekomme nur das N aus meinem Mund. Anna kennt mich zum Glück gut genug und sagt: „Noah ist in Sicherheit und es geht ihm gut. Wir werden dir helfen, versprochen." Wen meint sie mit „wir" und wo ist mein Vater? Mein Kopf tut weh von den Gedanken und ich spüre deutlich, dass sich meine Augen gleich wieder schließen werden. In mir kommt ein Gefühl auf, dass ich sehr lange nicht mehr gespürt habe. Es fühlt sich an, als würde ein Loch in einer Brust entstehen, ich habe Angst. Ich kralle mich in Annas Hand und schließe die Augen. Meine Gedanken schweifen kurz zu Taylor, doch sie wird nichts hier von wissen. Das letzte, was ich sehe, bevor ich in einen endlosen Schlaf falle, sind die Augen der Person, die mich vor Jahren im Stich gelassen hat.

In meinem schwächsten Moment, in meiner größten Furcht, denke ich nur an meine Mutter.

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