Kapitel 68

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POV Taylor

„Darf ich dir Kosta vorstellen", ruft Sam mir über die laute Musik hinweg zu und zeigt auf den großen Typen, der seinen Arm um ihre Schultern gelegt hat. Die beiden sehen ähnlich stark betrunken aus, doch sein nettes Lächeln kann man nur erwidern. Kosta hat widerspenstige Locken, die perfekt zu seinem Zahnpastalächeln passen und ihn wie einen Surfer aussehen lassen. Sam hatte noch nie einen bestimmten Typen bei Jungen, er ist bisher bestimmt einer ihrer besseren Griffe. Ich schüttele seine Hand und wir unterhalten uns kurz. In unserem Ort sind nicht oft Partys, aber die zum Ende der Klausurenphase sind immer legendär. Sam besorgt dafür immer Alkohol für uns und wir tanzen die ganze Nacht. Ich muss lachen, als sie Kosta dazu bringt, sie auf seinen Rücken zu nehmen. Sie schwingt ihre Hand so als hätte sie ein Lasso und Kosta wiehert wie ein Pferd. Die beiden werden sicher viel Spaß zusammen haben. Ich muss schmunzeln und drehe mich zurück zu Lina, um weiter mit ihr Karten zu spielen. „Ich muss bald weg", sagt sie zu mir und verzieht ihr Gesicht, um mir zu zeigen, dass sie das nicht toll findet. Ihre Eltern sind streng und sie darf nur bis Mitternacht bleiben. Meine Eltern sehen momentan alles relativ locker, sodass ich viel mehr Spaß habe als früher. Manchmal habe ich das Gefühl, sie hätten ein schlechtes Gewissen, doch letztendlich ist es auch egal, warum sie es tun. Ich bin oft mit Sam feiern oder chille mit ihr und dem Boxteam noch lange draußen am Basketballplatz. Mein Leben ist anders als früher, weil ich mehr mit den Leuten außerhalb der Schule mache. Ich sitze nicht mehr nur über den Büchern, sondern genieße jeden Tag in vollen Zügen all die Dinge, die mir Spaß bereiten. Meine Mutter hat mir eine neue Kette geschenkt, kurz nachdem wir wieder hier waren nach Milas Operation. Etwas in ihrem Blick hat mir gezeigt, dass sie weiß, dass meine alte Kette bei ihr ist. Mein Vater hat nie die Wahrheit über die Tage erfahren, in denen wir weg waren und vermutlich ist es besser so. Von Mila getrennt zu sein, fällt mir leichter, seitdem ich weiß, dass sie in Sicherheit ist. Hin und wieder habe ich den Drang, meiner Tante zu schreiben, doch dann lasse ich es lieber. Es würde meine alten Wunden wieder aufreißen und das will ich nicht. Ich muss lernen mit meiner Sexualität zu leben, ohne sie auszuleben und mittlerweile bekomme ich das gut hin. Es gibt hier sowieso kein Mädchen, was mich interessieren könnte. Ich hatte mein Mädchen und es wird kein neues geben. Mit dieser Gewissheit kann ich gut leben und wenn ich heute an sie denke, tut es nicht mehr weh. Es macht mich stolz, dass ich sie retten konnte und dass ich sie mal meine Freundin nennen durfte. „Du hast keine Chance", stichelt Lina grinsend und ich ziehe spielerisch eine Augenbraue hoch. „Nimm dich in Acht", sage ich, spiele eine Karte und gewinne damit das Spiel. Verärgert und gleichzeitig lachend kippt sie sich den Schnaps in den Rachen und fordert mich zu einem weiteren Spiel heraus. Auf der Tanzfläche sehe ich Sam mit Kosta knutschen und schüttele grinsend den Kopf. Es könnte wirklich alles schlimmer sein.

POV Mila

Drei Wochen lang war ich nicht mehr hier. Drei Wochen lang habe ich bei Jean gewohnt und kein Wort zu meiner Mutter gesagt. Sie hat oft angerufen und auch schon im Krankenhaus mit mir reden wollen, doch ich wollte nicht. Sie hat mein Leben gerettet, aber sie hatte es Jahre zuvor zerstört und das werde ich ihr nicht so einfach verzeihen. Noah konnte zum Glück in einen Kindergarten in der Stadt gehen, kann jedoch jederzeit auch zurück in seinen alten. Leas Mutter hat mir erstaunlicherweise erlaubt, die Zwischenprüfungen zu wiederholen und den Stoff von Zuhause aufzuarbeiten. Es tat gut, einige Tage nicht hier zu sein und weit von meinem Vater weg zu sein. Ich habe immer noch ständig Alpträume und brauchte Zeit, um mich zu erholen. Meine Narbe tut leicht weh, als ich durch den Regen zur Schule laufe. Heute ist die Wiederholung meiner Zwischenprüfung, für die ich mit Jean gelernt habe. Sie ist in den letzten Wochen unser Fels in der Brandung gewesen und war für Noah da, als wäre er ihr eigenes Kind. Ich bin ihr unendlich dankbar und werde es ihr bei Gelegenheit auch zeigen. Zum Glück musste ich nicht lange im Krankenhaus bleiben und konnte meiner Mutter so aus dem Weg gehen. Bis jetzt habe ich keine Ahnung, ob sie noch hier ist oder wieder bei ihrem besseren Leben. Mein Vater ist in einer Entzugsklinik untergebracht worden und weiß vermutlich nichts mehr von seiner Tat. Mich hingegen verfolgt sie auf Schritt und Tritt. Zu wissen, was mein Vater getan hat und dass ein Teil meiner Mutter in mir ist, lässt mich nicht mehr in Ruhe. Gerade deswegen ist Jean mir so wichtig, ohne sie wäre ich an den letzten Wochen sicherlich zu Grunde gegangen. Es war wichtig, jemanden zu haben, der für mich da ist. Es ist seltsam wieder durch die Gänge meiner Schule zu gehen, die ich nicht mehr so hasse wie früher. Sie gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, das ich zuhause nicht mehr habe.

Tatsächlich ändert sich das nicht mal, als ich Lea aus dem Büro ihrer Mutter kommen sehe. Sie erkennt mich und auf ihrem Gesicht erscheint ein seltsam freundliches Lächeln. Sie kommt auf mich zu und ich bleibe stirnrunzelnd stehen. „Hey, es freut mich, dass es dir besser geht", sagt sie und wirkt irgendwie unsicher. Ich nicke ihr einfach zu und will an ihr vorbeigehen, um diesem unangenehmen Gespräch aus dem Weg zu gehen. Da greift sie jedoch nach meinem Handgelenk und sagt: „Warte, Mi." In der Bewegung erstarre ich und drehe mich zu ihr um. Sie hat bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr meinen Spitznamen verwendet. Ihn zu hören, schenkt mir Erinnerungen, die ich vor Ewigkeiten verdrängt habe. Ich sehe Lea in die Augen und sie sieht mich so an wie damals. Ich habe das Gefühl wieder im Wald zu stehen mit klopfendem Herzen und aufgeregtem Atem. Ja Lea war mal eine gute Freundin, sie war mal ein wichtiger Mensch für mich und sie war das erste Mädchen, das ich toll fand. „Nenn mich nicht so", bringe ich leise hervor und ihr Blick wird traurig. Ich habe schon lange nichts mehr für sie übrig, weil sie oft genug ein Miststück war. „Es tut mir leid", sagt sie und es überrascht mich ziemlich. Warum entschuldigt sie sich jetzt und wofür überhaupt? „Ich wollte dich nie verletzen, du warst meine beste Freundin. Ich hatte nur Angst", stottert sie und ihre Augen werden glasig. Ich schüttele den Kopf und meine: „Du standest nicht auf mich, ich habe es überlebt. Du hättest ja nicht so ein Arschloch sein müssen jahrelang." Sie schluckt und nickt: „Du hast Recht, aber gleichzeitig auch Unrecht. Ich hätte dich nie so behandeln dürfen, weil es nie um dich ging. Es ging nur darum, dass ich zu feige bin, mich meiner Mutter zu stellen. Denn es ist nicht die Wahrheit, dass ich nicht in dich verliebt war." Verblüfft runzele ich die Stirn, ist das ihr Ernst. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie mich von sich gestoßen hatte und danach kein Wort mehr mit mir geredet hatte. Sie war ab diesem Tag immer nur scheiße zu mir gewesen und hatte mich wie Abschaum behandelt. „Ich wollte immer verhindern, dass es irgendwer erfährt, nur deshalb war ich so verdammt gemein zu dir. Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich nicht so bin", sagt Lea und mittlerweile rollen ihr Tränen über die Wangen. Ich seufze und Mitleid keimt in mir auf, weil ein Teil von mir sie versteht. Trotzdem waren ihre Taten unverzeihlich und ich sollte sie weiterhin verabscheuen. „Warum sagst du mir das jetzt?", frage ich, statt weiter auf ihre Beichte einzugehen. Sie wischt sich ihre Tränen weg und schluckt: „Weil ich einmal nicht egoistisch sein will." Ich ziehe fragend eine Augenbraue hoch und sie seufzt, es scheint ihr nicht leicht zu fallen. „Ich konnte es nicht ertragen, dass du sie so gern hast. Ich war eifersüchtig und als sie mich geschlagen hat, habe ich kapiert, dass sie auch in dich verliebt ist. Da habe ich es nicht mehr ausgehalten und sie erpresst." Ich höre Leas Worte, doch sie kommen nicht richtig bei mir an. Wovon spricht sie bitte? „Taylor wollte Chris nie küssen, sie hat es nur gemacht, um dich zu beschützen." Für einen Moment starre ich Lea nur an und meine Gedanken drehen sich wie wild. Es gibt wirklich eine Erklärung, ich habe es mir nicht eingebildet. Es war nie Taylors Schuld, sondern immer nur Leas. Wie von selbst schießt mein Arm nach vorne und packt Leas Kragen. Sie blickt mich erschrocken an und ich muss wieder an ihre Worte denken. Sie ist in mich verliebt und hat deswegen all diese dummen Dinge getan. All die Gedanken, die sich in meinem Kopf häufen, werden von einem verdrängt. Ich bin Taylor nicht egal. Ihre Gefühle waren echt und ich bin etwas wert. Die Anspannung verlässt meinen Arm und für einen kurzen Moment ziehe ich Lea in meine Arme. Sie war mal eine Freundin und wer weiß, vielleicht kann sie es mit etwas Abstand auch wieder werden. Zögerlich erwidert sie die Geste und sieht erleichtert aus, als ich sie loslasse. Ich lasse sie hinter mir und gehe mit einer völlig anderen Körpersprache zu meiner Klausur. Diese Erkenntnis ändert alles und gibt mir die Kraft, weiterzumachen. Es war nicht alles umsonst und auch wenn Taylor nicht mehr bei mir ist, war es ihr Herz zumindest einmal.

Ich hatte sie und dieses Wissen reicht mir, um nach vorne zu schauen.

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