Kapitel 54

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POV Taylor

„Eine hervorragenden Arbeit, Taylor", sagt Miss Thomson und legt mir meinen Aufsatz auf den Tisch. Ich lächele und bin erleichtert, mal wieder eine Note zu schreiben, die zu mir passt. Früher habe ich nur Einsen gehabt in jedem einzelnen Fach. Ich bin nicht wirklich abgerutscht, aber auf der anderen Schule war der Unterricht auch einfacher. Ich musste mich nicht so anstrengen und habe alles schleifen lassen. In den ersten Wochen hier war ich zusätzlich kein bisschen konzentriert und mit meinen Gedanken nur bei meinem alten Leben. Mittlerweile habe ich mich wieder an den Alltag gewöhnt und lebe wie früher. Meine Noten sind wieder vorbildlich und ständig sitze ich in der Kirche. Meine Eltern erlauben mir wieder mehr und ich fühle mich zuhause wieder wohler. Ich habe es jahrelang geschafft, mich zu verstecken, ich werde es wieder schaffen. Sam ist die einzige, mit der ich hin und wieder über meine Gedanken rede. Wir gehen öfters feiern und dann schaffe ich es, dass mein Kopf abschaltet. Beim Boxen wurde ich zu einem Auswahlturnier eingeladen und Sam wird mich begleiten. Meine Eltern sind über das Wochenende glücklicherweise geschäftlich verreist, weshalb ich sie nicht mal anlügen muss. Ich freue mich darauf, mal wieder etwas anderes zu sehen. Es passiert mir noch manchmal, dass ich unbewusst an meinen Hals greife und mein Herz schmerzt, wenn ich ins Leere fasse. Dann denke ich an Noah, den kleinen süßen Jungen und seine Schwester, die mir noch immer viel zu nahe geht. Hin und wieder denke ich darüber nach, einfach mit dem Zug zu ihr zu fahren. Doch was sollte ich ihr sagen? Ich habe sie unendlich verletzt und kann es ihr noch immer nicht erklären. Ich wünsche mir, dass Lea ihr Versprechen zumindest gehalten hat und niemandem etwas von Milas Situation erzählt hat. So wäre es zumindest nicht umsonst gewesen. „Du bist und bleibst ein Streber", meint Sam grinsend zu mir, als ich ihr in der Pause meine Note sage. „Jaja, hast du mit deinen Eltern geredet?", wechsele ich das Thema und wir sprechen über das Wochenende. Das Turnier findet in einer Stadt einige Stunden entfernt statt und wir werden den ganzen Samstag dort sein. In mir kommt Vorfreude auf, endlich kann ich wieder in den Ring steigen.

POV Mila

„Komm schon, du bist die Beste, wen sollen wir sonst schicken?", sagt Nick mittlerweile bettelnd. Er versucht mich seit einigen Minuten zu überreden, zu einem Boxwettkampf zu fahren und unsere Mannschaft dort zu vertreten. Ich habe eigentlich gar keine Lust zu kämpfen, weil ich meine Emotionen vermutlich nicht unter Kontrolle haben werde. Mein Vater macht in letzter Zeit nur noch Probleme und meine schulischen Leistungen fallen immer weiter ab. Ich stecke all meine Kraft in Noahs Erziehung und Schutz und weiß nicht mehr wie lange das noch gut geht. Tatsächlich findet der Kampf an dem Wochenende statt, an dem er mit den Vorschülern auf dem Ausflug ist. Es würde sich also anbieten, von zuhause zu verschwinden. „Ich finde auch, dass die Kapitänin gehen sollte", schaltet sich jetzt auch noch unsere Trainerin ein und nickt mir zu. Ich seufze und gebe mich geschlagen, was solls. Wenigstens werde ich meine Aggressionen dann etwas los.

Am Freitagabend bringe ich Noah zum Kindergarten und verabschiede mich am Bus von ihm. „Benimm dich und sei nett, ja?", sage ich zu ihm und er nickt sofort. „Viel Glück morgen", erwidert er und ich muss sofort lächeln. Er greift an seinen Nacken und öffnet die Kette, um sie mir zu reichen. Verwirrt runzele ich die Stirn, doch er sieht mich mit leuchtenden Augen an: „Du brauchst sie morgen mehr als ich." Ich schlucke und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie nahe mir diese Geste geht. Ich wollte diesen Anhänger nie wieder anziehen, aber ich kann meinem Bruder nichts abschlagen. Wenn er ihn mir gibt, muss es ihm wirklich wichtig sein. Er hat die Kette seit Wochen nicht einmal abgezogen und glaubt fest daran, dass Taylor irgendwann wieder kommen wird. Also ziehe ich mir das Schmuckstück um den Hals und lasse zu, dass Noah seine kleine Hand auf den Anhänger legt. „Ich glaube an dich", flüstert er und es treibt mir die Tränen in die Augen. „Los, jetzt mach dich ab", meine ich schief lächelnd und wuschele ihm durch seine Haare. Er läuft die Treppen hoch in den Bus hinein und ich winke ihm, als er weg fährt. Mein kleiner Bruder wird langsam größer und ich kann es nicht aufhalten. Er wird bald verstehen können, was mein Vater und meine Mutter uns antun. Daran will ich erst gar nicht denken...

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