Kapitel 59

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POV Taylor

„Es ist genauso schön wie letztes Jahr", sagt meine Mutter begeistert und reicht mir eine Blume, die sie gerade gekauft hat. Wir sind auf dem Winterfest der Schule und die Veranstalter haben sich wirklich mal wieder selbst übertroffen. Der Garten ist toll geschmückt und überall sind kleine Stände aufgebaut, an denen Punsch und süße Leckereien verkauft werden. Die Kirche erhofft sich dabei immer, dass sie genug Geld zusammen bekommen, um ein neues Gemeindehaus zu bauen. Wir legen unsere Blumen unter das Kreuz, das in der Mitte des Gartens steht und meine Mutter spricht ein kurzes Gebet. Sie wirkt heute etwas fröhlicher als in den letzten Wochen. Ich habe ein wenig das Gefühl, dass das auch am Fehlen meines Vaters liegt. Wir waren seit Ewigkeiten nicht mehr zu zweit unterwegs und es ist für mich eine angenehme Abwechslung. Wir reden über Tante Jean und über meine Zukunft, doch es ist lockerer als sonst. Sie unterhält sich sogar mit Sams Eltern, obwohl die beiden wirklich nicht in den Freundeskreis meiner Eltern passen. Als wir auf dem Heimweg am Bahnhof vorbeifahren, mustere ich die vielen Züge. Ich denke daran, wie es wäre, in einen hineinzusteigen und zu Mila zu fahren. Noch immer geistert sie in meinen Gedanken herum, auch wenn sie nicht mehr so präsent ist wie vor drei Wochen. „Es tut mir leid", sagt meine Mutter und bringt mich dazu, zusammen zu zucken. Ich sehe sie an und weiß nicht, was sie damit meint. Ihr Blick liegt weiterhin auf der Straße, doch ich sehe, dass sie glasige Augen hat. „Ich weiß, dass du deine Freunde vermisst. Wir machen es dir nicht gerne schwer, wir wollen dich nur beschützen", sagt sie und mein Herz klopft schneller. Noch nie zuvor hat meine Mutter mit mir über den Umzug gesprochen. Ich sehe genau, wie schwer es ihr fällt, Worte zu finden und Mitgefühl macht sich in mir breit. Ich erinnere mich an die Worte meiner Tante, meine Mutter kann es nicht verstehen, aber sie versucht es. Sie kann nicht einfach so raus aus ihrer Haut, genauso wenig wie ich es kann. Ich schlucke und greife nach der Hand meine Mutter. „Ich habe dich lieb", flüstere ich und sehe, dass eine Träne über die Wange meiner Mutter läuft. Mir fällt auf, dass sie im letzten Jahr mehr Falten bekommen hat. Es sind nicht mehr nur Lachfalten, sondern auch welche, die durch ihre Sorge entstanden sind. Sorge, die sie wegen mir hat, weil ich nicht so bin, wie ich sein sollte. Ich habe in den letzten Monaten viele Menschen verletzt und meine Mutter ist auch einer von ihnen. Sie erwidert den Druck meiner Hand und ich habe seit vielen Wochen mal wieder das Gefühl, nicht allein zu sein.

POV Mila

Ich blinzle und greife verwirrt nach meinem Handy. Es kann unmöglich schon halb acht sein und trotzdem höre ich Lärm aus der Küche. Meine Uhr verrät mir, dass es erst sechs ist und ich eigentlich noch eine Stunde schlafen könnte. Als ich etwas aus dem Nebenzimmer klirren höre, richte ich mich sofort auf und laufe aus meinem Zimmer. Das Licht im Flur blendet mich, doch ich gewöhne mich schnell daran. „Das ist schlecht", höre ich Noah sagen und erkenne ihn in seinem Schlafanzug in der Küche stehen. Er greift nach der Flasche, die unser Vater in der Hand hält. Es handelt sich vermutlich um einen billigen Rum, von dem er schon mehr als die Hälfte getrunken haben muss. Er sieht wie immer verboten aus und ist Sturz betrunken. Noah bekommt die Flasche zu greifen und zieht daran, da erhebt mein Vater seine Hand und schlägt ihm ins Gesicht. Innerhalb eines Bruchteils von Sekunden verschwindet jegliche Müdigkeit aus meinem Körper und wird von purer Wut ersetzt. Mein Vater hat viele schlimme Dinge getan und ich habe ihm noch sehr viele mehr einfach so verziehen. Er hat es nicht leicht und ich versuche immer, ihn zu verstehen. Doch es gibt eine Grenze, die er niemals überschreiten darf. Wer sich an meinem Bruder vergreift, der bekommt es mit mir zu tun und es ist mir scheiß egal, dass es mein Vater ist. Ich stürze auf ihn zu und schlage ihm volle Wucht ins Gesicht. Blut spritzt gegen unseren Küchenschrank und er ächzt auf. Ich packe ihn an seinem Shirt und schlage nochmal zu und nochmal. Ich sehe nur noch rot und spüre das Adrenalin in jeder meiner Zellen. Dieses Arschloch wird meinem Bruder nie wieder nahe kommen.

„Mimi", ertönt eine Stimme hinter mir und bringt mich dazu, meine Faust zu stoppen. Ich erkenne wieder meinen Vater vor mir und sehe, wie übel ich ihn zugerichtet habe. Erschrocken lasse ich ihn los und drehe mich zu Noah um, der tränenüberströmt vor mir steht und am ganzen Körper zittert. Schnell knie ich mich zu ihm und begutachte seine rote Wange: „Ist alles okay?" Er fängt immer heftiger an zu weinen, doch zumindest scheint sein Gesicht okay zu sein. Schnell nehme ich ihn in meine Arme und wähle Annas Nummer. "Es wird alles gut, ich bin hier", flüstere ich meinem Bruder zu und klemme das Handy zwischen mein Ohr und meine Schulter. Anna muss uns abholen, hier können wir unmöglich bleiben. Meine Hand ist an den Knöcheln öffen, doch ich spüre die Verletzung gar nicht. Zum Glück geht Anna sofort dran, doch ich komme nicht dazu ihr etwas zu erklären, weil ich plötzlich einen brennenden Schmerz in meinem Rücken spüre. Ich stöhne auf und erkenne in Noahs Augen die Spiegelung meines Vaters, der mir seine zersplitterte Rumflasche in die Seite gerammt hat. Der Schmerz breitet sich in meinem Unterleib aus und ich lasse meinen Arm mit dem Handy sinken. Noahs Blick ist entsetzt und er stemmt sich gegen mich, um mich aufzufangen. Ich versuche ihm mein Handy zu reichen und bringe nur: „Krankenwangen", hervor. Er nimmt mir mein Handy aus der Hand und mein Blick fällt auf meine Hüfte. Ich habe aus Reflex meine Hand auf die Wunde gedrückt, doch eindeutig steckt eine Scherbe tief in mir. Blut fließt über meine Finger und meine Lider werden immer schwerer. Ich schaue hinter mich und sehe, dass mein Vater bewusstlos auf dem Boden liegt. Die Hauptsache ist, dass er Noah nichts mehr antun kann.

Das letzte, was ich sehe, bevor ich meine Augen schließe, sind Noahs kleine Hände, die sich auf meine Wange legen und das Kreuz an seinem Hals.

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