Kapitel 55

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POV Taylor

„Wie cool ist das denn?", stößt Sam aus und ich kann ihr nur recht geben.

Das Sportgelände, auf dem das Turnier stattfindet, ist riesig und ich muss erst nachlesen, in welche Halle ich muss. Es gibt verschiedene Ringe, in denen die Vorrunden ausgekämpft werden. Erst das Halbfinale ist in der großen Halle, in der alle Zuschauer Platz haben. Die Teilnehmer kommen aus einem Umkreis von hunderten Kilometern, es ist eine Ehre, hier zu sein. Meine Aufregung wird immer stärker, doch gleichzeitig auch meine Vorfreude. Beim Aufwärmen spüre ich das Adrenalin in meinen Adern und weiß, dass ich bereit bin. Meine erste Gegnerin ist etwas größer als ich, dafür aber noch schmaler, obwohl ich schon ziemlich dünn bin für eine Boxerin. Ich schaffe es innerhalb von zwei Runden, sie zu besiegen und meine Trainerin zeigt mir einen Daumen hoch. Ich spüre deutlich, dass ich heute wirklich gut drauf bin. Auch meinen zweiten Vorrundenkampf gewinne ich souverän, obwohl meine Gegnerin viel muskulöser ist als ich. Meine Schnelligkeit überfordert sie schließlich und ich kann sie geschickt umhauen. Damit muss ich nur noch einen Kampf gewinnen, um ins Finale zu kommen. Vorm Halbfinale ist noch eine längere Pause, in der ich zu Sam kann. Sie lobt mich begeistert und ich kann ein bisschen abschalten. Der zweite Kampf hat an meinen Kräften gezerrt, aber ich bin immer noch hochmotiviert. Leider kann ich mir meine Gegnerin vorm Kampf nicht ansehen, weil die Gegner in einer anderen Halle gekämpft haben. „Du packst die alle easy", meint Sam und trinkt an einem riesigen Becher Cola. Sie stopft sich schon die ganze Zeit mit Popcorn voll, für sie ist der Nachmittag ein einziges Fest. „Hm", antworte ich nur und bin froh, dass wir bald in die Haupthalle dürfen.

Mein Halbfinale ist das erste und meine Aufregung wächst ins Unerträgliche. Ich bin erleichtert, als mein Name aufgerufen wird und ich in den Ring steigen darf. Dort springe ich ein paar Mal hoch und lockere meine Schultern. Meine Konzentration ist so hoch, dass ich auf nichts um mich herum achte. Ich schließe meine Augen und atme tief ein und aus. Als ich sie wieder öffne, steigt meine Gegnerin gerade in den Ring und ich sehe sofort, dass sie etwas größer ist als ich. Als sie ihre Jacke auszieht und die Kapuze abnimmt, verharre ich in meiner Bewegung. Diese dunklen Strähnen und den definierten Rücken würde ich unter tausenden wiedererkennen. Mein Herz rutscht mir sofort in die Hose und meine Gedanken überschlagen sich. Sie dreht sich zu mir und in dem Moment, in dem ihr Blick meinen trifft, beginnt mein Herz zu rasen. Ich habe mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Mila vor mir stehen würde. Ihre Augen weiten sich genauso wie meine, doch nach Sekunden werden sie dunkel. Mir wird wieder bewusst, dass sie ganz anders fühlt in Bezug auf mich als ich auf sie. Ich bin völlig überfordert von der Situation, doch als der Schiedsrichter das Signal gibt, reiße ich aus Reflex meine Arme nach oben. Mit meiner Deckung starre ich Mila an und versuche in ihren Augen irgendetwas zu erkennen. Ich sehe sofort, dass ihr ganzer Körper angespannt ist. So oft haben wir im Training gegeneinander gekämpft, ich kenne ihre Bewegungen in und auswendig. Deshalb schafft sie es auch nicht, mich zu schlagen. Ich kann jeden Angriff abwehren oder früh genug ausweichen. Es ist wie ein eingespielter Tanz und muss von außen verdammt spannend anzusehen sein. Ich wünschte es gäbe irgendein Zeichen dafür, dass sie mich nicht hasst. Ihr Blick ist voller Wut und ich kann nichts dagegen tun. Unsere erste Runde geht ohne Punkte zu Ende und in meiner Ecke, spricht meine Trainerin auf mich ein. „Du bist überlegen, aber du musst in die Offensive gehen. Lass dich nicht einschüchtern", sagt sie und ich nicke stumm. Mein Blick liegt stur auf meiner Exfreundin und mein Herz schlägt mir immer noch bis zum Hals. Ich will sie überhaupt nicht besiegen, ich will mich entschuldigen. Wieso müssen wir uns so wiedersehen? Es wirft mich völlig aus der Bahn und ich kann nicht damit umgehen. Mila hingegen scheint äußerlich völlig unbeeindruckt und ihr Blick ist hochkonzentriert. Wir stehen uns wieder gegenüber und ich wehre ihre Schläge ab. Sie sieht noch besser aus als in all meinen Erinnerungen und Träumen. Obwohl ihr ihre Haare nass in die Stirn hängen, würde ich zu gerne durch die Strähnen streichen. Sie hat mir gehört, doch ich habe es kaputt gemacht. Als mein Blick auf ihren Hals fällt, glitzert mir etwas entgegen. Sie bewegt sich leicht nach rechts, sodass ich erkennen kann, dass es der kleine Kreuzanhänger ist. Sofort sehe ich vor mir, wie ich Noah meine Hand reiche, wie ich meinen Kopf an Milas Hals vergabe, wie sie mich auf dem Aussichtsturm ansieht und ihre Haare vom Wind verweht werden. Für eine Sekunde bleibe ich wie angewurzelt stehen und lasse meine Hände sinken. Völlig unvorbereitet trifft mich eine Faust fest in meinem Gesicht und ich falle nach hinten hart auf den Boden. Die Decke dreht sich, doch ich sehe vor mir immer noch nur Milas Augen. Warmes Blut fließt aus meiner Nase, doch ich spüre nur die Erinnerung an ihre Lippen. Der Schiedsrichter zählt herunter und ich verliere den Kampf, dabei habe ich doch schon längst alles verloren.

POV Mila

„Du hast Taylor tatsächlich geschlagen", sagt meine Trainerin und klatscht mit mir ab. Das halbe Boxteam ist mitgefahren und jubelt mir von der Tribüne aus zu. Mein Blut rauscht noch immer in meinen Ohren und ich streife die Handschuhe so schnell ab, wie ich kann. Das Adrenalin erhitzt mich immer noch von innen, doch langsam kommen meine Gedanken wieder. Taylor ist hier und ich habe sie geschlagen. Ich trinke einige Schlucke Wasser und streiche mir durch meine verschwitzten Haare. Ich bin im Finale, aber das ist mir gerade relativ egal. Taylors Anwesenheit ist das Einzige, was mich gerade interessiert. Von Weitem sehe ich, wie sie auf einer Bank sitzt und sich die Wange hält. Gefühle kämpfen in mir gegeneinander an. Ich bin unfassbar wütend und verletzt, doch ich spüre auch deutlich, wie sehr sie mir gefehlt hat. Ihre Haare sind zurückgebunden, doch man kann trotzdem sehen, wie schön lang sie sind. „Geh hin und gib ihr die Hand", sagt meine Trainerin und ich seufze. Damit hatte ich schon gerechnet und es gefällt mir gar nicht. Ich will viel lieber sofort hier weg und all meine Gefühle wieder erfolgreich verdrängen. Ich balle meine Hand zu einer Faust, hole auf dem Weg ein Kühlakku von der Servicestation und gehe zu Taylors Bank. Als ich direkt vor ihr stehe, halte ich ihr das Kühlakku hin und meine: „Hier." Meine Stimme klingt kratziger als gewollt, weil ich doch ziemlich nervös bin. Taylor schaut auf und ihre Augen weiten sich erstaunt. Sie hat nicht damit gerechnet, dass ich zu ihr komme. Eigentlich hatte ich das auch definitiv nicht vor. Zurückhaltend greift sie nach dem kalten Kissen in meiner Hand und hält es sich gegen ihre geschwollene Wange. Ich habe sie ziemlich übel erwischt und ich weiß genau, dass sie mich gewinnen lassen hat. Sie war mir in jedem einzelnen Trainingskampf immer überlegen und hätte mich schlagen müssen. Es überrascht mich sehr, sie hier zu sehen. Ich habe zwar keine Ahnung, wie ihr Leben mittlerweile aussieht, aber ich habe nicht erwartet, dass sie hier sein würde. Ich halte ihr meine Hand hin, um es möglichst schnell hinter mich zu bringen und murmele: „Guter Kampf." Kurz betrachtet sie meine Hand, dann sieht sie auf in meine Augen. Ihre sind glasig und voller Reue, schnell weiche ich ihrem Blick aus. Sanft berührt ihre Hand meine und sofort schießt ein Kribbeln durch meinen Körper. Ihre Haut fühlt sich so vertraut an, dass es mir schwerfällt, sie loszulassen. „Können wir reden?", fragt sie vorsichtig und nimmt das Kühlakku von ihrer Wange. Ich mustere sie kurz und bereue es sofort. In ihren Sportklamotten sieht sie unwahrscheinlich gut aus und es quält mich, dass ich weiß, wie sie darunter aussieht. Kurz denke ich darüber nach, ihr eine Chance zu geben, sich zu erklären. Dann werde ich jedoch zur Vorbereitung zum Finale gerufen und zucke entschuldigend die Achseln. „Bis dann", sage ich und will gehen, doch da greift Taylor nach meinem Handgelenk. Ich sehe ihr in die Augen und ihr Blick ist warm, als sie sagt: „Viel Glück." Einen Tick zu lang sehe ich sie nur an und drohe, mich in ihren Augen zu verlieren. Tiefe blaue Seen, die mich magisch anziehen und nicht loslassen. „Danke", bringe ich schließlich heraus und löse mich dann schnell aus ihrem Griff.

Ich muss dringend weg von ihr, sonst weiß ich nicht, was ich Dummes tun werde.

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