Kapitel 42

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POV Taylor

„Irgendwann musst du es ihnen sagen", sagt Sam, als wir zusammen in meinem Bett liegen.

Wir sind bis halb drei bei Anna geblieben und sind dann leise durchs Haus geschlichen. Meinen Eltern hatte ich erzählt, dass wir bei den Mädchen aus dem Tanzteam sind. Ich brumme nur, weil ich diesem Gedanken schon seit Wochen aus dem Weg gehe. Mir ist bewusst, dass es keinen Sinn hat auf Dauer, eine Lüge zu leben. Genauso möchte ich Mila nicht für immer verstecken müssen. Unsere Beziehung wird darunter leiden, das ist vorhersehbar. Schon jetzt stört es mich, dass ich in der Schule nichts mit ihr machen kann. Ich würde am liebsten jedem sagen, dass sie mir gehört, damit sich keiner mehr an sie heranmacht. „Vielleicht unterschätzt du deine Eltern und sie reagieren anders als du denkst", meint Sam, doch ich höre in ihren Worten keine wirkliche Überzeugung. Meine Eltern haben mir nicht mal erlaubt, mit einem Jungen auszugehen. Für sie steht fest, dass ich meine Unschuld erst verliere, wenn ich heirate. „Ich meine, sie lassen zu, dass du mit mir befreundet bist", versucht Sam erneut, mich aufzumuntern und ich muss leicht schmunzeln. „Ja, aber nur weil sie denken, dass ich sonst gar keine Freunde habe. Außerdem bist du immerhin Christin." Ich spüre Sam neben mir lachen: „Danke auch." Ich habe mich auch schon mal gefragt, warum meine Eltern nichts gegen Sam haben. Manchmal sehe ich, dass meine Mutter sie auf diese bestimmte Weise ansieht, doch sagen tut sie nie etwas. Vermutlich ist es einfach ihr Charme, der jeden überzeugt. Mila hat auch verdammt viel Charme, aber nicht den richtigen. Sie hat eher die Sorte, die Mädchen dazu bekommt, mit ihr zu schlafen und nicht den, der konservative Ehepaare dazu bewegt, sie sympathisch zu finden. Mila hat eine kaputte Familie, ein rebellisches Äußeres und ist ein Mädchen. Sie ist exakt das, was meine Eltern auf keinen Fall für mich wollen. „Sie würden es nicht verstehen", murmele ich und spüre, dass Sam meine Hand nimmt. „Genieß es, solange du kannst", sagt sie und erinnert mich dabei an die Worte meiner Tante. Ich muss mit ihr reden, vielleicht kann sie mir helfen. Vielleicht kennt sie einen Weg, es meinen Eltern schonend beizubringen. „Ich habe übrigens mit so einem Jungen herumgemacht", sagt Sam und fügt hinzu: „Ich glaube er hieß Jonathan." Ich drehe meinen Kopf zu meiner besten Freundin und schlage ihr leicht gegen die Stirn. „Ist das dein Ernst?", frage ich und versuche dabei zu flüstern, um meine Eltern nicht zu wecken. Sam lacht nur und fragt, was daran schlimm sei. Also erzähle ich ihr von Lea und wir reden noch einige Stunden und sitzen am nächsten Morgen übermüdet im Gottesdienst. Sam bleibt noch bis zum späten Nachmittag, dann muss ich mich leider wieder von ihr verabschieden. Das Wochenende ging viel zu schnell vorbei und ich habe gar keine Lust auf die kommende Woche. Der einzige Lichtstrahl am Horizont ist das Boxtraining mit Mila. Dafür muss ich aber erst einen ewig langen Montag überleben, an dem Lea mich beim Tanzen ständig kritisiert. Ich frage mich wirklich, ob es nur an meinem Talent liegt oder sie mich einfach nicht leiden kann. Vielleicht hat ihr auch jemand erzählt, dass Sam mit Jonathan rumgemacht hat und sie ist deswegen sauer. Ihre Art geht mir wirklich auf die Nerven, ich habe ihr doch gar nichts getan. Ich schreibe Mila, dass mein Tag beschissen ist und ziehe mich extra schnell um. Im Bus bin ich die einzige, weil kaum jemand lang hat, durch einige Ausfälle kranker Lehrer. Das Box- und Tanztraining überschneidet sich nur Donnerstags, meinen Eltern erzähle ich jedoch ich hätte drei Mal die Woche Training. So kann ich abwechselnd zwei Mal zum Boxen und ein Mal zum Tanzen und andersherum gehen. Lea ist genervt davon, dass ich nur so selten im Training bin, doch es ist mir egal. Wir sind nicht genügend Tänzerinnen, als dass sie mich rausschmeißen könnte. Außerdem stehen die Halbfinals im Tanzwettbewerb bevor und ich gehöre zu den wichtigsten Tänzerinnen in der Choreo. Meine Eltern werden sicherlich wieder zusehen, weshalb ich das Training nicht schwänzen kann. Obwohl kein Boxtraining ist habe ich gehofft, vielleicht auf Mila zu treffen. Ich weiß mittlerweile, dass sie auch außerhalb der Trainingszeiten öfter in die Halle geht, um ihren Frust abzubauen. Es ist natürlich positiv, wenn sie das heute nicht brauchte, aber ich hätte sie gerne gesehen. Beim Abendessen reden meine Eltern über Universitäten, die sie interessant finden. Bei allen ist deutlich zu hören, dass sie von christlichen Organisationen unterstützt werden. Einerseits finde ich das schön, andererseits wäre ich dort nicht willkommen. Es darf keine Option für mich sein, mich weiterhin zu verstecken und meine Sexualität zu verleugnen. Nur leider ist es immer noch die Option, mit der ich sehr vielen Problemen aus dem Weg gehe. An diesem Abend liege ich noch lange wach und frage mich, ob es das alles wert ist. Am nächsten Tag wird mir diese Entscheidung jedoch sehr erleichtert.

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