erster Brief I Vermutungen

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"Liebe Elisabeth,

ich weiß, dass du nicht mehr lebst, aber ich weiß auch, dass dich meine Worte erreichen werden. Irgendwo tief in deinem Herzen wirst du meine Worte erkennen. Denke daran, dass ich dich nie vergesse und jeden Tag schreibe. Für immer. Denn nur du bist die Liebe meines Lebens. dich zu verlieren bedeutete für mich, einen Teil meines Lebens loslassen zu müssen. Doch du wirst niemals wirklich fort sein, das weiß ich. 

Heute war ich auf der Burg von Lord Fernsby, um eine Bestätigung für meine Vermutung zu erhalten. Es war eine dunkle Ahnung und ich hoffte aus ganzem Herzen, dass sie sich nicht bestätigen würde. Ich hastete die Straßen des Stadtkerns entlang, es war dunkel und keine Menschenseele war zu erkennen. Es war noch vor Morgengrauen, leichter Tau bedeckte die Straßen. Obwohl in dieser Zeit meist ein reger Trubel hier geherrscht hatte, seltsam. 

Natürlich, nachdem sie nach der Arbeit auch noch den neuen Vulkan bewundert hatten, waren sicher alle sehr müde. Diese Freude über solch Ereignisse ist typisch für unser verschlafenes Städtchen, man freute sich schließlich schon immer über Ereignisse jeder Art. Und wenn das Bauerndorf am Stadtrand zerstört wurde, ist es nicht tragisch, sondern aufregend. Außerdem würde es für die Leute im Dorf noch ein verheißungsvoller Tag werden, wo doch wahrscheinlich viele Touristen den Vulkan bewundern kommen würden und sicherlich auch den Markt besuchen. Geld ist immerhin die einzige Freude dieses kleinen Städtchens. Sowie auch die unseres Lords. Herzlose Menschen, welche sogar ihre Seele an den Teufel für genug Geld verkaufen würden, sind sie allesamt. 

Wer würde aber auch den armen siebenundvierzig Bauern im Dorf nachtrauern, welche um einiges ärmer und bedeutungsloser waren als sie? Noch dazu, wenn es vermutlich der einnahmensreichste Tag im Jahr werden würde? Niemand! Das war die traurige Wahrheit, mit welcher ich leider immer noch zu hadern habe. Zudem sterben jeden Tag so viele, dass man sowie keine Zeit hat, darüber zu trauern. 

Ich lief in die Richtung des Schlosses von Lord Fernsby. Ich lief nicht planlos dahin, oder ohne Absicht, nein, ich hatte eine Vermutung, wie ich schon erwähnte. Und trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie wirklich wahr sein konnte, da ich dachte, es würde niemals so etwas Böses auf der Welt geben. Doch wenn ich in meinem Leben eines gelernt haben sollte, dann, dass das Böse immer neue Wege findet, einen zu überraschen. Ich hielt zwar immer wenig von unserem Lord, aber niemals hätte ich angenommen, dass er für sein eigenes Glück über Leichen gehen würde. Doch in schlechten Zeiten ist immerhin vieles möglich. 

Wie du weißt, gab es vor zwei Monaten diese kleinen Erderschütterungen. Du hieltst es für völlig harmlos, was auch später dieser renommierte Professor aus Oxford bestätigte. Aber seltsam daran war, dass nur Lord Fernsby mir es später mitteilte, damit ich die Bürger beruhigte. Keine Aussage von Professor. Und nun das ... Ich hätte wetten können, dass die mir mitgeteilten Worte nicht die vom Spezialisten waren. Überhaupt, wenn die Untersuchungen der Gegend nicht kostenlos gewesen wären, weil er sowieso im Ort war, hätte Fernsby nie zugestimmt. Zu sehr um sein eigenes Wohl bedacht, dieser gierige Kerl. 

Ich sah das riesige graue Schloss mit den hohen Zinnen, kleinen Fenstern und dem riesigen Burghof vor mir. Nein, ein Mensch wurde nicht so reich, wenn er sich um andere sorgte. Ein Mensch wurde so reich, wenn er andere ausschließlich betrog und ausnahm. Güte war noch nie eine Einnahmequelle. Und Lord Fernsby konnte ohne ein wenig Luxus nicht leben. 

Insbesondere seit viele Dorfbewohner, wie auch die Bewohner Waringtowns, sich zu größeren Städten begeben haben, wurde Fernsby zu diesem Geizkragen, wie du ihn jedoch nie kennenlerntest. Die Einnahmen basieren nur noch auf den Abgaben unsererseits und nicht mehr auf dem großen Stadtgeschäft. Natürlich hätte ihm der Verkauf des Hauses finanzielle Sicherheit gewährt, doch wenn er eines mehr liebt als sein Geld, dann ist es sein Grundbesitz. Besonders, seit alles andere plötzlich wertvoll sein kann und im nächsten Moment doch wieder nichts wert, scheint er sein Schloss wie ein Heiligtum zu betrachten. 

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