vierunddreißigster Brief I Veronica

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"Liebe Elisabeth,

wie geht es dir heute? 

Ich weiß nicht annähernd, was ich von diesem Tag halten soll. Vielleicht geht es mir gut, vielleicht auch nicht, verwirrt bin ich auf jeden Fall. 

Ich war wieder zu Besuch bei Veronica. Sie klang schon seltsam, als sie mich einlud. Ich dachte mir, wie immer, das Schlimmste und hoffte dennoch auf das Beste. Leider wurden meine Gedanken wieder Wirklichkeit, wie sollte es auch anders kommen? Pessimisten liegen schließlich immer näher an der Wahrheit als Optimisten, was ich leider zugestehen muss. 

Ich stand etwa zwei Minuten vor der Tür, bevor ich klopfte. So als hätte sie schon seit Stunden vor der Tür gewartet, riss sie die Tür auf Anhieb auf. Sie begrüßte mich, indem sie mir sagte, sie hätte schon lange auf mich gewartet und hätte dringend etwas mit mir zu bereden. Zögernd trat ich ein. Etwas stimmte schon da nicht an der gesamten Situation. 

"James Edevan. Oder sollte ich besser sagen, James Relish?"

Ich schluckte schwer. Sie sah mich bitterböse an und ich schwieg. Wie schon vor einem Jahr. Sie wusste das, was ich jahrelang erfolgreich verstecken konnte. Und jetzt würde alles aus sein, dachte ich mir. Dennoch machte ich vorsichtig hinter mir die Tür zu.

„Guten Tag, Mrs Dysentery. Geht es Ihnen gut?", fragte ich, ohne auf ihre Anspielung auf meine Vergangenheit einzugehen. 

Ich weiß, sie hatte mich über so lange Zeit hinweg geduzt, aber jetzt war es irgendwie unpassend. Die Atmosphäre glich nicht mehr einem Plausch unter Nachbarn sondern einem Kriegsgespräch. Eine bittere Kälte empfing mich in diesem Haus. 

„Mir geht es gut, danke der Nachfrage, Mr Relish. Sollten Sie im Moment nicht woanders sein?"

Sie ging und holte mir einen Tee. Immerhin kann sie noch einen guten Tee machen, etwas, was ich hier in England sehr zu schätzen gelernt habe. 

„Wie meinten Sie das?" Ich war ein wenig verwirrt. Ihre Wortwahl war gewählt, doch ergab sie gleichzeitig keinen Sinn. 

„Im Gefängnis, wegen Mordes." Ihre grauen Augen hatten jegliche Wärme verloren und sie sah mich an, als würde an meiner Stelle nichts sein. Ich weiß nicht genau, was sie wollte. Ein wenig erschreckend war es dennoch, wenn sie doch sonst eine so freundliche Person war. Doch der Hass sprach aus ihr. 

„Sie haben mit Dorothee geredet, nicht wahr?" Es war nicht einmal die Frage nötig, ich wusste es auch so. Dorothee verplapperte sich nur allzu gerne. Veronica musste nur schlussfolgern, wenn sie von ihr meinen Namen erfahren hat. Vielleicht wusste sie auch mehr, als sie jemals vorgab. 

„Ja. Noch Tee?", fragte sie mich, ohne ihren Tonfall zu ändern. 

Ich nickte kurz. Meine Gedanken schwirrten umher und ich wusste nicht annähernd, was ich tun sollte.

Wieder goss mir Veronica den Tee ein. Außerdem legte sie neben meine Teetasse ein kleines Messer mit scharfer Klinge und setzte sich wieder hin. Nicht eine Rührung war in ihrem Gesicht zu sehen und ich wollte auch keinerlei Veränderung zeigen. 

Sie schien mit mir ein Spiel zu spielen. Ob ich gewinnen würde, stand noch aus. Doch was genau sie beabsichtigte, war mir zu der Zeit nicht klar. Auch wenn ich es hätte wissen müssen. 

„Wissen Sie, was ich heute Abend noch vorhabe, James?" Endlich war ihr Ton wieder normal und die Kälte in dem Zimmer verschwand langsam

„Ich werde kurz vor der Schließung ins Polizeirevier gehen und Ihre Identität preisgeben. Anschließend werde ich den Polizisten sagen, wo Sie wohnen. Und dann werde ich wieder nachhause gehen und noch eine Tasse Tee trinken. Was haben Sie denn heute vor?", ergänzte sie, während sie mich ununterbrochen anstarrte und lächelte. 

Es jagte mir Angst ein, wie ruhig sie sprach, während sie mich immer mehr provozierte. So als wenn sie wollte, dass ich das Messer ergreifen würde.

Langsam wurde mir klar, was sie von mir dachte. Es wurde mir klar, dass sie mich für einen wahnsinnigen Mörder hielt. Für einen Mörder, welcher nur aus Spaß tötete und sie genauso erledigen würde. Doch würde ich das tun? 

Nach einigen Momenten des Schweigens stand sie auf und hob das Messer hoch. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nicht einmal, was das alles sollte. Doch ich folgte ihren Bewegungen, in der Erwartung, dass sie dann etwas erklären würde. 

„Ich dachte, Sie hätten wenigstens den Stil, mich gerade heraus zu töten. Von hinten werde ich nicht sehr gerne erstochen. Doch wenn Sie mich töten, werden Sie ihr ganzes Leben hier in völliger Ruhe verbringen können, wenn nicht, dann werden sie bald am Galgen hängen. Sie haben Ihre Wahl. Selbst wenn diese mein leben beendet. Aber einen Mörder werde ich nicht länger in meiner Nähe dulden."

Ich blieb still stehen und dachte nach. Die Entscheidung fiel mir schwerer, als ich jemals hätte denken können, denn beides war keine Option für mich.

Früher hätte ich vermutlich keine Sekunde gezögert, doch jetzt war es etwas anderes. Ich war jemand anderes. Hatte ich wirklich schon jemanden ermordet oder war es ein Unfall? Sollte ich jetzt zu einem Mörder werden? In diesem Moment stand meine Entscheidung felsenfest klar.

Immer näher rückte sie das Messer und drückte es mir fast gegen die Kehle und doch rührte ich mich nicht. Ich wollte und konnte es nicht. Ich würde nicht. Kein Menschenleben war gleich viel wert wie ein Leben im Gefängnis. Denn eines war ein endgültiges Ende und das andere etwas, mit dem ich leben konnte. 

Sie sah mir in die Augen, herausfordernd, so als würden wir nur Schach spielen, und ich wüsste nicht, welchen Zug ich machen würde. Und doch wusste ich es. 

Langsam hob ich meine Hand in die Höhe und nahm ihr das Messer aus der Hand. Sie war etwas kleiner als ich, doch sah sie mich von unten erwartungsvoll an. Für sie war es wirklich nur ein Spiel, für mich der reine Ernst. 

Plötzlich und voller Wut, welche mich einfach überkam, schmiss ich das Messer aus dem Fenster. Ein kleiner Ruck, eine der kleinen Fensterscheiben zerbrach und das Messer landete irgendwo im Garten. 

Sie sah mich etwas erstaunt an, als hätte ich einfach nicht so reagiert, wie ich sollte, auch wenn alles andere falsch gewesen wäre. Die flammende Wut in all meinen Zügen sollte ihr gelten, doch sie tat es nicht. Ihr Tod war meine Zukunft zwar nicht wert, doch ihr Leben bedeutete in dem Moment für mich nichts. 

„Wieso, James? Was haben sie vor?"

„Nichts, Mrs Dysentery, aber jeder Mensch ist irgendwann an der Zeit sich zu ändern, selbst wenn Sie es mir nicht glauben. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag", antwortete ich voller Hass in jedem Wort. Ich hasste sie nicht für ihre Neugier, nein. Ich hasste sie für ihr fehlendes Vertrauen. Etwas, das ich zwar selbst so oft hatte, doch nach all den Jahren nicht dulden konnte. 

Ich war kein Mörder und ich werde niemals einer werden. Ich reagiere auf alle Impulse, alles, was man mir entgegenbringt, doch langsam musste es aufhören. Man kann nicht immer dieselben Fehler begehen. 

Noch ein letztes Mal sah ich sie an, bevor ich mich umdrehte. Es mag ruhig sein, dass ihre Sicht auf mich sich nicht verändern hat, doch egal was sie tun würde, ich würde nie mehr reagieren wie früher. Das schwöre ich dir, Elisabeth.

Egal was geschieht, es kann doch sowieso nichts mehr schiefgehen, wenn alles schon in Trümmern liegt. 

Dir wundervolle Grüße

Dein

Etwas verwirrter

James"

James legte seinen Brief ab. Erst langsam fing er an zu verstehen. Er begann, sich zu erinnern und wieder in Ruhe alles vergessen zu können.

Sein einziger Fehler war jetzt, dass er dachte, nichts könnte schlimmer kommen, doch für jeden Höhepunkt muss es auch einen Tiefpunkt geben---

Remember and forgetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt