dreiundvierzigster Brief I Entscheidung

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"Liebste Elisabeth,

ich bin zurück in Newcastle, auch wenn ich mich wirklich frage, was ich hier mache.

Edevan hat mich zurückgeschickt, natürlich von meinem eigenen Geld, auch wenn ich mich wirklich frage, wieso. Ich kann mich nicht auf den Straßen blicken lassen, weil ich vermute, dass jemand etwas von dem Drama in Pembroke mitbekommen hat und ich kann auch nicht mehr nach Pembroke zurück. 

Wie lange wird es wohl noch so gehen? Ich weiß es nicht, und vielleicht will ich es noch nicht einmal wissen. 

Aber heute muss ich wenigstens keine Angst haben, dass mich jemand wiedererkennt. Ich bin nämlich im Krankenhaus. Nicht, dass du dir jetzt Sorgen machen müsstest, aber es ist eine lange Geschichte. Ich selbst bin nicht verletzt und doch hat alles irgendwie mit mir zu tun. So wie fast alles Schlechtes, wo ich gerade bin. 

Alles begann nur wenige Stunden nach meiner Rückfahrt. Zu der Zeit waren in Pembroke schon alle Hotels, Häuser und leerstehende Gebäude durchsucht worden, wie ich hörte. Doch kaum war ich dieser Katastrophe entronnen, folgte die nächste hier. 

Ich sah einfach nur aus dem Fenster und beobachtete den Schnee, wie er nach unten rieselte. Ich hatte einen sehr guten Ausblick auf die anderen Häuser und betrachtete noch nebenbei die meist hell erleuchteten Fenster und deren Besitzer. Weihnachten dauerte noch an. Der zweite Weihnachtsfeiertag, bald würde Silvester sein. Nur ich saß noch ganz alleine in meinem Haus. Eigentlich falsch, Mrs Dysentery genauso. 

Deshalb wunderte ich mich, als Männer in schwarzen Anzügen und ewigen Seitenblicken auftauchten und ohne anzuklopfen in ihr Haus marschierten. Soweit ich wusste, hatte sie nie jemanden außer mir zu Besuch gehabt. Als wütende Schreie ertönten, lief ich sofort zur Tür und warf mir meinen Mantel über. Egal, ob sie mich für einen Mörder hielt oder nicht, ich konnte nicht einfach verschwinden und gehen, wenn sie mich brauchte. Und sie brauchte mich in diesem Moment. 

Etwas frierend stapfte ich durch den immer noch recht hohen Schnee und sah gerade noch, wie die unheimlichen Männer verschwanden. Etwas an ihnen kam mir bekannt vor, als hätte ich sie schon einmal getroffen, doch woher war mir nicht klar. Die wütenden Schreie waren verstummt. Eigentlich war überhaupt nichts zu hören, was mich erst irritierte. Es war zu leise für Veronica. 

„Mrs Dysentery?", fragte ich vorsichtig, als ich vor ihrem Haus stand. Niemand antwortete. Als ich gegen die Tür klopfte, ging sie quietschend auf. Nervosität kam hoch und ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. 

„Mrs Dysentery? Sind Sie da?" Etwas Rotes im Empfangszimmer machte mich nervös und ich trat ein, auch wenn ich sonst nicht gerne einfach irgendwo hereinplatze.

„Um Gottes Willen, Veronica!", schrie ich vor Entsetzen. Blut floss langsam über den Boden und eine Stichwunde im Bauchbereich war deutlich zu erkennen. Auch wenn ich meine Lektion bei Mister Ferndall gelernt haben sollte, fühlte ich den Puls. Sehr langsam und schwach schlug ihr Herz. Aber immerhin schlug es noch. 

Es gab zwei Möglichkeiten. Mich ausliefern und den Krankenwagen rufen, oder wieder Nachhause gehen. Die Entscheidung fiel nicht sonderlich schwer. Auch wenn sie sich bei unserem letzten Treffen wie eine Wahnsinnige verhalten hatte, so war sie dennoch ein wunderbarer Mensch. Sterben durfte sie einfach nicht. 

Leise stöhnte sie und ihr Kopf kippte zur Seite. „Veronica, bleib wach. Bitte", bat ich sie, auch wenn sie mich vermutlich nicht wirklich hören konnte.

Wieder drehte sie den Kopf zu mir. Hauptsache sie blieb wach. Ich lief zu dem kleinen Beistelltisch, welchen ich schon so gut kannte. Während ich mit einer Hand die Wählscheibe betätigte, fühlte ich abermals den Puls. 

Es fühlte sich an wie Stunden, bis jemand ans Telefon ging. Elende Stunden, in welchen ich darauf hoffen musste, dass Veronica nicht starb.

Das Schlimmste an allem war, dass mir einfiel, wieso die Männer mir so bekannt vorkamen. Weil ich sie nämlich kannte. Es waren welche Männer, die ich vor nur wenigen Tagen in Edevan Industries gesehen habe. Diese Aufpasser, angestellt von Mister Drehlan. Sie waren hier, um mich zu suchen. Und doch kamen sie mir dort schon bekannt vor, seltsam... 

Und im selben Moment fiel mir ein, wer mich verraten hatte. Es war beinahe lächerlich, wie spät und wann genau es mir einfiel. Von jemandem musste Drehlan diese Informationen über mich haben, doch gegeben habe ich sie nur... Edevan und Dorothee, wenn ich sie ihr nur durch Umwege mitgeteilt habe. Edevan kann ich trauen, das weiß ich. Aber es musste auch jemand mich an Veronica verraten haben, und dafür kam nur Dorothee in Frage. Aber ich hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ihr Puls wurde immer schwächer. 

Veronica war etwas Besonderes, so seltsam sie sich auch in der letzten Zeit verhalten hatte. Und ich war nun leider der Einzige, welcher sich um sie kümmern konnte. Sobald Darcy hierher zurückkommt, wird er jedenfalls einen Teil der Wache hier übernehmen, da ich nicht immer Zeit habe. Wie konnte sie nur in das alles hineingeraten? Wieso scheinen alle Menschen, welche ich kenne, dem Tod so nahe zu sein? Vermutlich bringe ich einfach nur Unglück für diese Welt. 

Nun sitze ich jedenfalls an ihrem Krankenbett. Und auch wenn ich schon lange darüber grübele, wieso ich es tue. So wie fast alles in meinem Leben war es einfach nur sinnlos. Aber es gab doch noch eine Frage, welche mich ungemein beschäftigte. Wieso hatte Dorothee mich verraten? Und war es Absicht oder nicht? So viele Fragen und wie immer keine einzige Antwort. 

Auf Wiedersehen. 

Dein dich liebender

James"

James faltete leise den Brief zusammen  und legte ihn ins Kästchen. Müde und nachdenklich lehnte er sich zurück. War es die richtige Entscheidung gewesen oder war alles nur in dem entscheidenden Augenblick "richtig"? 

Manchmal sind Fragen viel mehr eine Antwort, als alle Antworten der Welt---

Remember and forgetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt