fünfundzwanzigster Brief I Familie

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"Liebe Elisabeth,

erinnerst du dich noch an deine Familie? Ich hätte niemals gedacht, sie noch ein Mal zu treffen, nachdem deine Mutter mich aus ihrem Haus verbannt hatte. Nun, was diese angeht ... Unwichtig. Eigentlich gar nicht so unwichtig, doch sicher kannst du dir denken, was mit ihr geschehen ist. Es tut mir leid, meine Liebe, dass ich dir diese Nachricht überbringen muss. Du musst erschüttert darüber sein, das weiß ich, doch einen kleinen Trost gibt es immerhin: Deine Schwester hat eine Tochter. Ja, sie hat den Mann geheiratet, welchen zu abgewiesen hast, doch das ist nicht weiter von Belang. Ihrem Vater gleicht die kleine Luise sicher nicht. Luise Elisabeth Llewelyn-Ferchjon, wie ihr ganzer Name lautet, sieht dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich weiß, du hättest gerne selbst Kinder gehabt, aber da es uns nie vergönnt gewesen war, ist es wenigstens eine gute Sache. 

Luise Elisabeth ist ein wunderschönes Mädchen. Ganze siebzehn Jahre alt ist sie nun und geht sogar auf die Universität. Wie deine Familie das zulassen konnte, ist mir immer noch ein Mysterium, erfreulich ist es dennoch. 

Ich bin ihr erst heute durch Zufall in Lenham begegnet. Sie verbringt die Semesterferien hier bei einer Freundin, da sie nicht von Cambridge in kürzester Zeit nach Cardiff kommen kann. Lenham liegt zwar auch nicht gerade nah, aber es ist immerhin nur die Hälfte des Weges. Außerdem scheint ihr das Schloss von Ferchjon nicht zu gefallen; verübeln kann man es ihr nicht, schließlich hast du es auch gehasst. Diese verstaubten Hallen und der riesige Saal, an dessen Tisch ich mich nicht einmal setzen durfte. Hätte ich damals gewusst, dass das Grinsen deiner gesamten Familie in genau dem Moment erlöschen würde, in dem sie mich sahen, wäre ich nicht gekommen. Aber allein die erstarrten Grimassen waren es wert gewesen. Vielleicht klinge ich wirklich wie ein Bauerntölpel, welcher zu allem unfähig ist, wie deine Schwester mich bezeichnet hatte, doch wenn, dann tue ich das gerne. 

Doch anstatt stundenlang über die damaligen Umstände nachzudenken, sollte ich dir besser erklären, wie es zu diesem Treffen gekommen war. Darcy, welcher sich mittlerweile beruhigt hatte, hatte mich zum Markt geschleift, damit ich nicht andauernd aus dem Fenster sah. Fast hätte ich sie nicht bemerkt, so sehr war ich in Gedanken verloren und so sehr ärgerte ich mich über alles nur Mögliche. Sonderlich auf meine Umgebung habe ich auch nicht geachtet, da ich niemals angenommen hätte, meine Nichte heute zu treffen. 

Aber wie der Zufall so spielte, stieß sie geradewegs auf mich, sowohl im übertragenden als auch im wortwörtlichen Sinne. Dank ihrer tollpatschigen Art, welche sie dir noch ähnlicher macht als sonst, ließ sie augenblicklich alles fallen. Erfreut war ich darüber nicht, doch ich riss mich zusammen. Wäre es ein schlechterer Tag gewesen, so hätte sie sich jedoch sofort auf eine Schimpftirade vorbereiten können. So seufzte ich aber nur und ließ mich auf die Knie sinken, um ihr beim Aufsammeln zu helfen. Ich hätte auch warten können, bis sich Darcy von dem Schrecken erholt hätte, denn dank seiner helfenden Art wäre ich schnell überflüssig geworden. 

Kaum eine Minute später hielt sie schon Stapel von Blättern im Arm, welche vollkommen zerknittert waren. Ich wäre schon gegangen, doch dann entdeckte ich ein Anmeldeformular für einen weiteren Sprachenkurs an der Universität. Kurz brachte mich der Zettel ins Stocken. Studentinnen gab es nicht sonderlich viele, das schoss mir als Erstes durch den Kopf. Solche welche Latein wählen, wie mir das Formular verriet, erst recht nicht. Die meisten interessierten sich eher für Fächer, welche ihnen bei der Männerwahl helfen würden. Und ich glaube nicht, dass irgendjemand eine Dame, welche kochen, sich gut kleiden und ein Instrument spielen kann, eine vorzieht, welche auf drei verschiedenen Sprachen spricht. Sicher hättest du Latein auch so sehr geliebt wie ich, hättest du mehr Unterricht gehabt als wenige Stunden am Sonntag von mir. 

Interessiert warf ich einen kurzen Blick auf sie. Ihr Kleid reichte nur knapp über ihre Knie und kein Schmuck zierte sie, also schätzte ich sie nicht für sonderlich reich ein. Und aufgrund Klugheit gab es so selten Studentinnen, dass ich sie augenblicklich als Genie einschätzte. 

"Es tut mir leid", meinte sie auf Walisisch. Ihre Stimme klang äußerst stark und selbstsicher für ein so junges Mädchen. 

"Das macht nichts. Ich hoffe wirklich, Sie werden in den Kurs aufgenommen", antwortete ich auf derselben Sprache. Erst später bemerkte ich überhaupt, dass ich nicht in Englisch sprach. Mit kaum jemandem hier konnte ich in meiner eigentlichen Muttersprache reden, nicht einmal mit Darcy, welcher wohl das als feiner geltende Englisch bevorzugte. Seit ich Pembroke verlassen hatte, hatte ich kein einziges Wort Walisisch gesprochen und dennoch war es mir so vertraut wie eh und je. 

"Danke, das hoffe ich auch. Auch wenn meine Mutter mich lieber in den Klavierunterricht schicken würde, doch das werde ich sicher niemals lernen. Selbst eine Katze kann das besser spielen als ich, wie sie so gerne sagt. Vermutlich stimmt es sogar, so wie ich bei den Festen dieses übermäßig große Ding zerstückele. Zwei Tasten habe ich schon zerschlagen, ein Wunder, dass es nicht mehr sind. Aber wer soll diesen Lärm auch aushalten können?" So ähnlich wie sie hattest du beim ersten Treffen ebenfalls auf mich gewirkt. Es war wohl der Moment, an dem ich die Verbindung zu dir herstellte. Wie sie aussah, wie sie sprach; einfach alles ließ auf dich schließen. 

"Tut mir leid, wenn ich Sie nerve. Oh, entschulden Sie bitte, ich vergesse einfach, dass ich nicht zu Hause in Cardiff bin. Wissen Sie, ich kann mir so etwas schlecht merken. Und wieder rede und rede ich ..." Mittendrin wechselte sie die Sprache. Ihr Englisch war nicht annähernd akzentfrei, doch es klang beinahe genauso gut. 

"Nein, nein, das macht nichts", fuhr ich in meiner Heimatsprache fort, "Cardiff, sagten Sie? Haben Sie zufällig Kontakt zur Familie Ferchjon?" Anfangs wusste ich nicht, ob solch eine Frage wirklich angemessen war, aber ich riskierte es. So etwas konnte kein Zufall sein. 

"Woher wissen Sie das? Sicher kennen Sie meine Mutter Gwendolin Ferchjon! Oder meinen Sie meine Großmutter?" Sie wirkte ein wenig irritiert. 

"Sie sind Gwendolins Tochter? Ich vergaß mich vorzustellen: James, James Relish, Elisabeth Ferchjon war der Mädchenname meiner Frau." 

"Sie sind der Mann von Tante Lissy? Wirklich? Oh, welch eine Überraschung! Ich hätte nicht erwartet, Sie jemals zu treffen, nach allem, was bei uns über Sie erzählt wird! Sind Sie tatsächlich ein Bauer aus dem schrecklichsten und kleinsten Kaff der Welt?" 

Hätte ich zu dem Zeitpunkt etwas getrunken, so hätte ich mich verschluckt. Die Meinung deiner Schwester hat sich wohl niemals geändert. 

Nun, ich könnte dir das gesamte Gespräch aufzeichnen, doch das würde zu lange dauern und außerdem möchte ich die weniger amüsanten Teile überspringen. Ich habe sie für morgen zum Tee eingeladen und hoffe, dass sie kommt. Ich schreibe dir ganz bald wieder. 

Es könnte noch ganz erträglich werden in dieser Stadt.

Auf Wiedersehen. 

In ewiger und vollkommener Liebe 

Dein

James"

Er faltete den Brief zusammen und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Zum ersten Mal seit Jahren war erfüllte Fröhlichkeit sein Herz. Er wollte lachen und jubeln. Es war, als hätte er seine Elisabeth zurückbekommen und damit war ein Traum in Erfüllung gegangen. 

Es war die letzte Chance für James, aber um sie nutzen zu können, musste er sich verändern. Doch wieder er das? Oder wird Luise nur verblassende Erinnerung wie seine gesamte Vergangenheit werden? 

 Doch wieder er das? Oder wird Luise nur verblassende Erinnerung wie seine gesamte Vergangenheit werden? 

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